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Ein nasses Grab

Ein nasses Grab

Titel: Ein nasses Grab
Autoren: Reginald Hill
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endete. Ein beachtlicher Schlag für so eine Bohnenstange. Er beförderte den Empfänger rückwärts von seinem hohen Barhocker und löste eine interessante Kettenreaktion die ganze Bar entlang aus.
    Dalziel saß an einem Tisch neben der Tür und grinste vor Vergnügen. Die junge Frau, die neunzehn, höchstens zwanzig sein konnte, ergriff nun in aller Ruhe ihre Tasche und verließ den Bartresen. Dalziel stand auf und öffnete ihr die Tür.
    »Gut gemacht, Mädel«, sagte er und äugte ihr leutselig in den Ausschnitt. »Das hat mir wirklich Spaß gemacht.«
    »Hat es das?«, fragte sie. »Dann freuen Sie sich bestimmt über eine Zugabe.«
    Dalziel stand, und er war auch viel kräftiger gebaut als ihr erster Gegenspieler. Trotzdem beförderte auch ihn der Schlag rückwärts auf seinen Tisch, wobei sein Glas zu Bruch und der Aschenbecher zu Boden ging.
    »Mensch!«, sagte er und befühlte vorsichtig seine Nase, während er dem entschwindenden Rücken der schlagfertigen Maid hinterhersah.
    Sein finsterer Blick glitt durch den ganzen Raum, eine Warnung an alle Anwesenden, sich bloß nicht an seiner Schmach zu weiden. Doch die meisten richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Bemühungen, die Ordnung an der Bar wiederherzustellen. Der zu Boden gegangene junge Mann blutete ein wenig, sah aber eher verwirrt als schmerzgepeinigt aus. Er war Anfang zwanzig, blond, groß, athletisch schlank, ein Typ, den Dalziel mit den Dreiviertel-Spielern moderner Rugby-Teams assoziierte, die sich hauptsächlich aus jungen Männern namens Bingo und Noddy zusammensetzten. Sein Begleiter war etwa gleich alt, aber kleiner und wohlbeleibter, genau genommen bei weitem zu wohlbeleibt für einen Jüngling in diesem Alter.
    Anscheinend war er der Einzige an der Bar, der sein Glas hatte retten können, und er musterte die anderen mit einem leicht selbstgefälligen Grinsen.
    »Charley«, sagte er. »Ich glaube, du solltest den Leuten hier einen ausgeben.«
    »Gib du doch einen aus«, sagte Charley. »Immerhin ist sie deine Schwester, diese Kuh.«
    Jemand betrat hinter Dalziel den Raum.
    »Gibt’s ein Problem?«, fragte ihn eine Stimme ins Ohr.
    Er wandte sich um und erblickte einen kleinen Mann mittleren Alters, der einen derart abscheulich geschnittenen alten Nadelstreifenanzug trug, dass man nicht einmal sagen konnte, er habe schon bessere Tage gesehen.
    »Problem?«, fragte Dalziel zurück.
    »Ich war im Restaurant. Einer der Kellner sagte etwas von einem Tumult.«
    »Tatsächlich?«, sagte Dalziel. »Ich hab nix gesehen.«
    Er wandte sich um und ging, hocherfreut, endlich einmal selbst
an
und nicht
unter
Zeugenblindheit leiden zu dürfen. Nur ein Sadist oder ein Zeitungsreporter würde sich durch das Gerücht von einer Rauferei aus dem Speisesaal des »Lady Hamilton« locken lassen, und Dalziel hatte keine Lust, seinen Urlaub als komische Einlage in irgendeinem Lokalblättchen zu beginnen. Und wenn er es sich richtig überlegte, hatte er auch sonst keine Lust, seinen Urlaub zu beginnen. Er sollte ihm guttun, ihm helfen, die Reizbarkeit und Erschöpfung loszuwerden, die in den letzten Monaten in seinem Berufsleben immer mehr überhandgenommen hatten. Allerdings war es gerade die Zeit, während der er nicht arbeitete, die Zeit, die er mit sich allein verbrachte, die er am meisten fürchtete, und alles, was ein Urlaub ihm bringen würde, wäre mehr von dieser Zeit. Doch probieren musste er es, so viel war ihm klar. Andernfalls … nun, es gab kein Andernfalls, das er sich ausmalen wollte.
    Morgen würde er wie ein braver Tourist aufbrechen, um abseits der ausgetretenen Pfade die Landschaft von Lincolnshire zu erfahren. Vierzehn Tage Frieden und Stille, und dann wie neugeboren zurück an die Arbeit. Vielleicht.
    Bis dahin jedoch schob er, wie er es nun schon viele Nächte lang getan hatte, den Augenblick des Lichtausmachens immer weiter hinaus, bis er an der Schwelle des Schlafes stand. Er schenkte sich eine wohlabgemessene Menge Scotch ein und stellte das Glas auf den Nachttisch. Dann stieg er ins Bett, gehüllt in einen Schlafanzug, der sich von Muster und Größe her als Bezug für drei oder vier Liegestühle geeignet hätte, setzte sich die Lesebrille behutsam auf die noch immer schmerzende Nase und nahm sein Buch zur Hand, Bulwer-Lyttons
Letzte Tage von Pompeji
. Er hatte sie aus dem Hotel mitgehen lassen, in dem er seine Flitterwochen verbracht hatte, und las mittlerweile bereits dreißig Jahre daran.

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    2
    Brücke ins Nichts
    D ie Landschaft
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