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Ein nasses Grab

Ein nasses Grab

Titel: Ein nasses Grab
Autoren: Reginald Hill
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Niederschläge wieder in die Luft zurückzusaugen. Nebelkringel setzten hier und da Jugendstilmuster in die regelmäßigere Abfolge von Bäumen und Hecken, die die Wasseroberfläche durchbrachen. Stellenweise erhoben sich auch höher gelegene Flächen heiter aus den Fluten. Auf einer davon war etwa einen Kilometer weit weg ein Haus auszumachen, dem Bauart und Entfernung die Umrisse einer Burg aus dem Märchenbuch verliehen. Jemand hatte eine glückliche, oder weise, Wahl getroffen, als er diesen Bauplatz gewählt hatte. Weiter als bis dahin konnte man in dieser feuchten Luft nicht sehen, doch die Fluten erstreckten sich bestimmt bis zum sichtbaren Horizont.
    Wasser an Stellen, wo es nicht hingehört, hat etwas unsäglich Deprimierendes. Dalziel blickte von der Brücke hinunter, und ihm schien, als wären die braunen Tiefen voller toter Dinge. Alles, was er sehen konnte, waren Blätter und Äste, die auf der Oberfläche trieben. Vermutlich lebten darunter Fische und anderes Wassergetier. Und vermutlich hatten die Fluten bei ihrem Überfall auf trockenes Land auch getötet, keine Menschen, wie zu hoffen stand, aber sicher Vieh und Wild.
    Was würde ich tun, dachte Dalziel, während er in den angeschwollen Bach starrte, der unter ihm dahinfloss, was würde ich tun, wenn ich eine Leiche vorübertreiben sähe? Sie ignorieren und weiter Urlaub machen?
    Düster schüttelte er seinen enormen Schädel. Er war in seinem Leben so weise gewesen, nicht die Tiefen dessen ausloten zu wollen, was ihn selbst antrieb und ausmachte, doch er wusste nur allzu gut, dass er höchstwahrscheinlich Hexenschuss, Beri-Beri und weiß der Himmel was sonst noch riskieren und in diese dreckige Brühe hinauswaten würde, um den Leichnam zu bergen, und sich anschließend zum Befremden und Verdruss eines hiesigen Vertreters des Gesetzes so lange vor Ort herumtreiben, bis die Todesursache zu seiner Zufriedenheit geklärt wäre. Überschwemmungen wären eine gute Gelegenheit, sich eines unliebsamen Verwandten zu entledigen, überlegte er scharfsinnig.
    Nein! Verflucht noch mal! So ging das nicht. Der Urlaub, darum ging es.
    Frische Luft atmen, den Einklang mit der Natur suchen, in Schönheit baden, der Geschichte huldigen – a) Ferien in England plus b) ausgelaugter Polizist ergibt c) Neubelebung von b) durch a).
    Egal, was für eine Leiche mir da unter der Nase vorbeischwimmt, ich sage ahoi und adieu, schwor sich Dalziel und schritt, der Symbolik ebenso ihren Tribut zollend wie der Notwendigkeit, hinunter an das vom Wasser umspülte Ende der Brücke, öffnete seinen Hosenschlitz und entleerte sich in die Fluten.
    Er hatte sein Geschäft soeben verrichtet, da ließ ein Geräusch ihn aufsehen. Es war ein langes Knarren, gefolgt von einem leisen Platschen. Und es kam wieder, hinter einem keilförmigen Buchenwäldchen hervor, das etwa fünfzig Meter zu seiner Linken unerschütterlich aus dem Wasser ragte. Der Nebel schien hier besonders dicht, und Dalziel musste sich sehr anstrengen, um die graue Wand, die ihm die Sicht versperrte, zu durchdringen. Dann tauchten Umrisse aus dem Nebel auf. Die Klangfolge war wieder zu hören. Und mit einem Mal war ein Ruderboot zu sehen. Hastig machte er sich daran, seinen Hosenschlitz zu schließen.
    Das Boot glitt an ihm vorüber, der Ruderer zog die Riemen mit langen, bedächtigen Schlägen durch. Er sah aus wie ein Mann, der sein ganzes Leben lang Landluft geatmet hatte, wettergegerbt und fit, irgendwo zwischen fünfzig und hundert, aber fähig, bis in alle Ewigkeit weiterzurudern. Im Bug saß, wie eine verkehrt herum montierte Galionsfigur, noch ein Mann. Sein Alter ließ sich genauer bestimmen, er musste um die siebzig sein, und sein Profil hätte jeder römischen Münze zur Ehre gereicht. Doch Dalziels Aufmerksamkeit galt weder dem einen noch dem anderen.
    Mit im Boot saß nämlich eine Frau, ganz in Schwarz, bis hin zu einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Ihr Kopf bewegte sich nicht, als sie vorüberfuhr, doch Dalziel hatte das Gefühl, dass die Augen es taten und ihn hinter dem Schleier hervor anblickten. So fesselnd war dieses Bild, dass Dalziel sein makaberstes Detail zunächst gar nicht wahrnahm.
    Das Ruderboot zog etwas hinter sich her, einen kleinen Plattbodenkahn.
    Darauf stand ein Sarg.
    Es war unverkennbar ein Sarg. An den dunklen Mahagoniseiten glänzten Messinggriffe, und drei Kränze verspritzten Weiß und Grün über den Deckel. Selbst die offenkundige Meisterschaft des Ruderers konnte das
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