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Ein Mund voll Glück

Ein Mund voll Glück

Titel: Ein Mund voll Glück
Autoren: Horst Biernath
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kurz vor zehn seine Praxis, in der fünf Patienten auf ihn warteten.
    Natürlich klang der freudige Schock dieser wahrhaft goldenen Morgenstunden noch lange in ihm nach, aber die Arbeit erforderte so viel Aufmerksamkeit und Konzentration, daß seine Patienten von dem nachzitternden Glücksgefühl weder etwas merkten noch darunter zu leiden hatten. Seine Hände zitterten nicht. Er führte den Bohrer so ruhig und sicher wie stets und setzte ihn an der richtigen Stelle an.
    Als er den zweiten Patienten entließ, steckte die kleine Monika, Dr. Seehubers Bürolehrling, den Kopf zur Tür hinein, um ihm auszurichten, daß der Herr Doktor den Herrn Doktor bitten lasse, auf einen Sprung herüberzukommen.
    »Ausgeschlossen, Monerl! Sag dem Herrn Doktor, der Herr Doktor habe alle Hände voll zu tun, und der Herr Doktor soll sich gefälligst bis zum Ende der Sprechstunde des Herrn Doktors gedulden.«
    »Aber es scheint sehr dringend zu sein...«
    »Wo brennt’s denn?«
    »Das wissen wir selber nicht...«
    »Was soll denn das heißen?« fragte er ungeduldig.
    »Nun ja«, berichtete das Monerl mit einem Gesicht, als käme ihr die Geschichte nicht ganz geheuer vor, »der Herr Doktor hat dem Fräulein Stolz einen Zettel auf den Tisch gelegt, sie solle alle Klienten abwimmeln, und es wäre sehr fraglich, ob er in den nächsten Tagen Besuche empfangen könne...«
    »Das ist ja komisch...«, murmelte der Doktor.
    »Das finden wir auch. Er hat sich in sein Büro eingesperrt und redet mit Fräulein Stolz nur durch die geschlossene Tür. Und als Fräulein Stolz ihn fragte, ob er einen starken Kaffee wünsche oder ob ich ihm lieber zwei Rollmöpse holen solle, da brüllte er, sie solle sich mit ihren Rollmöpsen zum Teufel scheren, und er brauche nichts anderes als Ihren Besuch, Herr Doktor.«
    »Lauf schon rüber, Monerl«, sagte der Doktor etwas ratlos, »und bestell deinem Chef, daß ich gleich kommen werde. Ich muß nur meinen Patienten Bescheid sagen.«
    Es war ihm peinlich, seine Patienten zum zweitenmal warten lassen zu müssen, aber er vertröstete sie damit, daß es sich nur um eine kurze Unterbrechung der Sprechstunde handeln werde. Er rätselte nicht lange herum, was Alois Seehuber passiert sein mochte. Das war über einen sehr kurzen Weg rasch zu erfahren. Die Stimmung der Damen in der Kanzlei war äußerst gereizt. Vor allem Fräulein Stolz, Seehubers rechte Hand, sah blaß und verkniffen aus und beschwerte sich darüber, daß der Chef so grob gewesen sei, daß sie ernsthaft daran denke, ihm zu kündigen...
    »Immer mit der Ruhe, Fräulein Stolz«, sagte der Doktor begütigend, »jedem läuft mal eine Laus über die Leber. Wann ist Ihr Chef denn ins Büro gekommen?«
    »Er war schon da, als ich das Büro um halb neun aufmachte.«
    »Sein Auto stand schon um halb acht vor dem Haus«, sagte der Doktor. »Ob er in seinem Büro übernachtet hat?«
    »Das ist schon vorgekommen, allerdings sehr selten...«
    »Wenn er allzu kräftig aufgetankt hatte?«
    Die Damen hoben die Schultern und schwiegen. Immerhin, die Solidarität im intimen Bereich der Firma Seehuber schien noch intakt zu sein.
    »Na, dann wollen wir mal sehen!« sagte der Doktor heiter und klopfte kräftig an die Polstertür: »Mach auf, Alois! Ich bin’s, Werner...«
    Alois Seehuber schien sein Kommen hinter der Tür erwartet zu haben, denn sie öffnete sich, kaum, daß Werner Golling seinen
    Namen genannt hatte. Die Damen machten lange Hälse, als Werner Golling sich durch den schmalen Spalt, den ihr Chef freigab, in Alois Seehubers Kanzlei zwängte, aber der Raum war verdunkelt, und sie bekamen ihren Chef nicht zu Gesicht. Er stand hinter der Tür und sperrte sie ab, als Werner Golling den Raum betreten hatte. Ja, das Zimmer war verdunkelt, und durch die schweren grünen Veloursvorhänge drang so wenig Licht, daß Werner Golling von seinem Freund Seehuber nicht mehr als einen Schatten wahrnehmen konnte.
    »He«, rief er verblüfft und tastete nach dem Lichtschalter, »was, zum Teufel, ist mit dir los?«
    In der Deckenlampe flammten zwei hundertkerzige Birnen auf, und wie von der jähen Lichtfülle geblendet, schloß der Doktor für eine Sekunde die Augen, denn der Anblick, der sich ihm bot, war wahrhaft gespenstisch. Alois Seehuber stand, nur mit Hose und Unterhemd bekleidet, vor ihm. Ein nasses Handtuch, doppelt um den Kopf geschlungen, bedeckte drei Viertel seines Gesichts, das Kinn, den Mund, die Nase und das rechte Auge, und das freie linke, das den Doktor
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