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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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Instrument, wie einen Hebel, mit dem man die eigene, nicht ausreichende Kraft vergrößert. Aber wie eine für ihn selbst glaubhafte Feindseligkeit gegen dieses Mädchen entwickeln? Hass? Er war ein Leben lang ohne Hass ausgekommen. Leiden ist die einzige Möglichkeit, ihr, die dich leiden macht, wehzutun. Aber wenn du einsiehst, dass alles, was du leidest, von dir selbst angerichtet wurde? Wenn etwas furchtbar ist, und du musst zugeben, dass dir recht geschieht? Wenn du sagen kannst, dir werde unrecht getan, kannst du dich wehren. Wenn du sagen musst, dubist es selbst, der dir das tut, woran du leidest, wenn du niemandem etwas vorzuwerfen hast, musst du dich gegen dich wenden. Ekel? Ja! Zunehmend. Zunehmend Ekel verursachten ihm alle Kleider, die er in Marienbad und Karlsbad getragen hatte. Er hätte längst tätig werden müssen.
    Und rief Stadelmann und trug ihm auf, alles, was er im Sommer in Böhmen getragen hatte, sofort in einer Kiste zu verstauen. Das Werther-Kostüm, den Sommermantel mit dem roten Samtkragen, alle Leinen- und Baumwollhemden, die er dort gekauft hatte. Die schwarz-seidene und die weiß-seidene Weste, den weiß-flanellenen Schlafrock, das weiß-batistene Halstuch samt Vorstecknadel, die Strümpfe, die Socken. Stadelmann, du hast wieder Haare verkauft in Böhmen. Ich hätte dich entlassen müssen. Ich muss dich entlassen, wenn du jetzt versagst. Alles in eine Kiste, dann fährst du hinaus ins Webicht, fährst noch über die Fasanerie hinaus, nimmst Torf mit und Papier. Ein Feuer, das nichts übrig lässt. Stadelmann, haben wir uns verstanden?
    Der Riese Stadelmann, der, als der Haarverkauf erwähnt wurde, förmlich schrumpfte, richtete sich wieder auf und sagte feierlich: Jawohl, gnädigster Herr.
    Goethe sah, dass er sich jetzt auf Stadelmann verlassen konnte. Wenn ich noch ein einziges Mal einem Schnupftuch oder einem Schal begegne, der im Sommer dabei war, bist du entlassen. Verstanden?!
    Ja, gnädigster Herr, sagte Stadelmann und ging.
    Ottilie war schon in Berlin. Das Manöver konnte gelingen. Er atmete auf. Und rannte hinüber in das Schrankzimmer, in dem die Papiere verwahrt wurden. Die Reiseabrechnung,geführt und unterschrieben von Johann Wilhelm Stadelmann. Wunderbare Papierformate in Stadelmanns Schrift, die so schwunghaft schön war wie sein Fahrstil. Und las sich noch einmal fest in den Wörtern und Daten dieses Sommers. Das Moorbad, täglich 30   Kreuzer, das tägliche Öl 15, die 4   Semmeln 8, die täglichen Wachslichter 1.40, jeden Gulden, jeden Kreuzer hat Stadelmann notiert, Bier, Wäsche, Logis, Pappier, mit zwei p, Trinkgeld, in die Armenbüchse, Tintenpulver, an der Tafel des Barons von Broesigke 3   Gulden 20, das tat ihm noch gut, dass er immer bezahlt hatte, wenn er drüben im Palais am Tisch von Frau von Levetzows Vater mitdiniert hatte. Das konnte er alles selber verbrennen. Alles. Auch die Rechnung der Brunneninspektion über die ins Haus gelieferten Kisten mit 36   Krügen Kreuzbrunnen samt Korken. Die hatten ihn gerettet. Diese Rechnung musste er noch einmal lesen:
    Nur nach bestbeschaffener im vorgeschriebenen Gewichte und zu bestimmter Zeit geschehenen Überlieferung des Gutes belieben Sie dem Fuhrmann die Fracht zu zahlen.
    Nein, diese Rechnung würde er nicht verbrennen. Die sollte übrig bleiben als das Monument einer Rechtschaffenheit, die es einmal nicht mehr geben wird. Und legte die Rechnung zurück in eine der Schubladen für Aufzubewahrendes.
    Aber das Bild? Wenn er es ernst meint, muss er es verbrennen. Aber er kann kein Bild verbrennen. Noch nicht.Und die Schatulle mit dem Handschuh vom 28.   August 1823 und das Schlüsselchen, das er am Kettchen immer noch um den Hals trägt   … Alles, was nicht verbrannt werden konnte, musste vergraben werden. Zuerst einmal weg von ihm, Kettchen und Schlüsselchen, nur weg damit jetzt.
    Er atmete leichter. Als hätte dieser Entschluss ihn überhaupt handlungsfähiger gemacht, wurde es ihm plötzlich klar: Seine ganze Entsagung-Schau, sein komisches Verzichttheater, seine kulturelle Kulissenschieberei, das war nichts als eine groteske Überschätzung der Umwelt, der Gesellschaft.
    Ottilie hatte recht, wenn sie ihn Tartuffe schimpfte und ihm vorrechnete, wie er in seiner Literatur propagiere, je bitterer der Kelch, desto süßer die Miene, mit der man ihn leere, und in Wirklichkeit sei er haltlos, anstandslos, charakterlos wie der ruinierteste Opiumsüchtige im Londoner Slum. So konnte sie einbrüllen auf ihn,
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