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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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Jakobskirche erkannte. Dann waren sie drin in der von tausend Kerzen festlich erleuchteten Kirche. Sie war so überfüllt wie an dem Tag, als Christiane hier beerdigt worden war. Ulrike lachte, sobald sie in der Kirche waren, lachte dem und jenem zu. Die lachten zurück. Ulrike kannte alle, alle kannten Ulrike. Dann küssten sie einander. Er und sie. In Wirklichkeit hatten sie einander auf dem Rückweg am Waldrand zum letzten, zum allerletzten Mal geküsst. Aber während sie einanderim Traum küssten, drehte sie ihr Gesicht, ohne das Küssen zu beenden, so, dass sie an ihm vorbeischauen konnte, dass sie einem jungen Mann, deutlich einem Orientalen, nachschauen konnte, der an ihnen vorbei zur Tür ging und sich, bevor er durch die Tür verschwand, noch einmal umdrehte für einen Blickwechsel mit ihr.
    Als er aus diesem Traum aufwachte, war er sofort aufgestanden. Er fürchtete, wenn er wieder einschlafe, müsse er wieder einen solchen Traum erleben. Diese Ohnmacht gegen einen Traum. Was sollte er am Tag tun, um vor solchen Träumen geschützt zu sein? Er wusste es ja. Er sollte sich durchsetzen. Gegen sich. Das Einzige, was bisher geholfen hatte: Arbeit. Er konnte schreiben, was er wollte, über was er wollte, solange er schrieb, war er geschützt. Das war geübt. Das hatte er intus. Schreibend war er nicht von dieser Welt, sondern in einer eigenen. Aber wenn er dann ermüdete und aufhören musste, überfiel ihn die Vergangenheit mit gesteigerter Wucht, so als habe sie sich, weil er sich von ihr weggewandt hatte, aufgeladen, gestaut und sei jetzt vielmal so mächtig, wie sie davor gewesen war. Er holte Hufelands Buch und las die Stelle, die er, als er krank war, gelesen und angestrichen hatte. Er las das jetzt noch einmal:
    Boerhave erzählt von sich selbst, daß er, nachdem er einige Tage und Nächte immer über den nämlichen Gegenstand nachgedacht hatte, plötzlich in einen solchen Zustand von Ermattung und Abspannung verfallen wäre, daß er eine geraume Zeit in einem fühllosen und totenähnlichen Zustand gelegen habe.
    Warum verfiel er nicht, da er doch nur an Ulrike dachte, in diesen erwünschten fühllosen und totenähnlichen Zustand? Warum war er nie darauf gekommen, Ulrike aus ihrer Schmuckverweigerung zu befreien? Weil er ihren Zustand achtete. Weil er sie zu sehr verehrte. Weil er sie anbetete, so wie sie war. Am letzten Abend in Karlsbad hatte er ihr dieses goldene Gingko-Blättchen geschenkt, absolut lächerlich. Sie hatte es nicht einmal an diesem Abend getragen. Ihm aber hing das goldene Schlüsselchen, das zu ihrem Handschuh führte, Tag und Nacht um den Hals. Sie existierten in einer grausamen Ungleichheit.
    Jenem Herrn Zeuner ließ er von John die diktierte Empfehlung an Humboldt überreichen, ohne ihn zu empfangen. Das vermochte er, weil er sich an der gestelzten Sprache rächen wollte. Dann also, fast ersehnt, der Kanzler von Müller und Julie von Egloffstein. Er und der Kanzler wetteiferten, seit die süße Julie, so wurde sie mit Recht genannt, ins Haus kam, um ihre Gunst. Julie genoss es. Heute aber kamen beide mit Verschwörer-Gesichtern. Der Kanzler trug ein in eine Decke gehülltes Bild. Bitte, Platz zu nehmen, Exzellenz, und wegschauen. Er gehorchte. Als er wieder hinschauen durfte, hing das Bild an der Wand, an der immer Bilder zur Präsentation hingen. Es war Ulrike von Levetzow. Beide freuten sich über seine Sprachlosigkeit.
    Julie sagte, es sei ein Weihnachtsgeschenk für ihn. Von ihr. Da sie aber nicht sicher gewusst habe, ob es unter dem familiären Weihnachtsbaum willkommen sei, bringe sie es ihm jetzt schon.
    Dramaturgie, dachte Goethe. Der allerhöchste Regisseur. Oder Teufels Großmutter. Dass das Wort Zufall nurein Verlegenheitswort für Ignoranten war, hatte er immer gewusst.
    Exzell-e-enz, rief Julie so doppelsilbig wie sonst nur Ulrike.
    Das wurde bedrohlich. Aufstehen konnte er nicht. Er musste jetzt eine Haltung zeigen, die die beiden Gutwilligen verstehen und, falls sie gefragt würden, weitersagen konnten. Wie kommt es zu diesem Bild, Julie? Diese Frage klang intensiv, aber nicht fassungslos.
    Auf diese Frage hatte Julie gewartet. Und sprudelte los. Julie hat in Dresden ein Fräulein Fölkersam kennengelernt, die in Dresden Kunst studiert. Sobald das Fräulein Fölkersam, eine Kurländerin, hört, dass Julie in Weimar daheim ist, rennt die Kurländerin und holt ihr Goethe-Porträt und will wissen, ob es gut sei, und Julie, Goethe parodierend, sagt: Höchst kongruent! Die
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