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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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ist glücklich, plaudert aus, dass sie von ihrer Freundin Ulrike von Levetzow viel über Goethe und Marienbad gehört habe, auch habe sie Ulrike gezeichnet. Julie erwarb die Zeichnung und führte sie aus zum Bild: halb Gouache, halb Aquarell, halb Kreide, halb Öl. Das Tollste: Ulrikes Gesicht in so vielen Farben! Er erinnerte sich: So sah sie im Traum aus. Ach, Julie! Die sagte, jetzt bitte sie um ein Todes- oder ein Lebensurteil.
    Goethe sagte: Höchst kongruent.
    Jetzt lachten die zwei.
    Dann seriös zu Kanzler von Müller: Er wisse sicher, dass Ottilie samt Familie morgen abreise nach Berlin. Berlin leuchtet, sagt Ottilie. Und seit sie das gesagt hat, sagen es alle. Und alle wollen die Saison in Berlin verbringen, sich amüsieren. Aber nicht alle können. Wir Armen, dieden Glücklichen nur trauernd hinterherschauen können, wollen aber für uns sorgen dürfen. Dazu gehört als Erstes: Dieses Bild wird der Künstlerin abgekauft, Herr Kanzler, Sie zahlen dafür jeden Preis, dann kommt es in meine Räume, meine Schränke, verschwindet für immer, wir wissen nichts von einem solchen Bild! Kein Geschwätz, kein Gerücht, wir sind geübte Entsagende, uns ficht nichts mehr an. Herr Kanzler, liebe Julie, ich sehe, ihr seid von Herzen einverstanden. Und ließ das Bild sofort abhängen und zu sich hinüberschaffen. Das besorgte Stadelmann. Der Abend war gerettet.
    Als er dann spät in seine Räume kam, sah er einen Zettel vom weisen Stadelmann, der mitteilte, in welchen Schrank er das Bild getan hatte.
    Er saß im Stuhl der Mutter Egloffstein und ließ seine Hände zittern. Es gab nicht die geringste Gefahr, dass seine Hände im Beisein anderer Leute zu zittern anfingen, aber wenn er allein war, tat es ihm fast gut, sie zittern zu lassen. Er musste dann gar nichts tun, sie zitterten anstrengungslos, sozusagen von selbst. Er sah zu. Sah seine Hände an. Die Fingernägel. In Marienbad von Stadelmann geputzt, poliert. Wahrscheinlich wird Juan Adam de Ror, wenn die echten Diamanten mit den nachgemachten nicht mehr konkurrieren können, mit seinen Orientbeziehungen im Kaffeehandel der Größte werden. Die Zukunft heißt Mocca.

6.
    Er musste endlich aufstehen. Kaum stand er, durchfuhr ihn ihre Abwesenheit. So scharf, frisch, schmerzhaft, als treffe die Nachricht, dass er sie nicht mehr habe, gerade in diesem Augenblick ein. Sofort beherrschte ihn dieses nichts aussparende Gefühl der Verlorenheit. Im Liegen hatte er eine unmessbare Zeit lang geübt, sich ohne sie zu sehen; hatte eingeübt, dass es sie für ihn nicht mehr, nie mehr gebe; er konnte das Gefühl haben, eine Art nichts mehr durchlassende Decke über alles geworfen zu haben. Und jetzt, durch nichts als eine Lageveränderung, war seine ganze Abfindungsarbeit weg, als hätte es sie nicht gegeben. Jedes Mal sticht die Erinnerung zu und trifft einen Wehrlosen. Also, fang wieder an. Die Einübung ins Aussichtslose. Jetzt hatte er Ulrikes Bild, jetzt konnte er in jeder Sekunde hin, konnte ihr Gesicht, in Julies fast wilder Farbfreude gemalt, anschauen und anschauen und   … Und was?
    Er durfte dieses Bild nie anschauen. Und wusste, dass er sich das hundertmal vorsagen und dann hinrennen und es herausziehen und dann anschauen würde. Anschauen und anschauen! Eine Gemeinheit der Dramaturgie! Mit diesem Bild ist sie deutlicher da, als wenn es dieses Bild nicht gäbe. Also erschwert dieses Bild seinen Kampf. Also sollte eres vernichten. Das sollte er, aber   … Er musste etwas tun gegen dieses Bild. Und ging, so schnell er konnte, zum Schreibtisch. Und schrieb.
    Ein liebender Mann.
    Kein Gesicht mehr. Ein Nasenknick, eine Nasenspitze, ein Mündchen, das keine Sekunde zur Ruhe kommt, es zuckt, zappelt, ein trockenes Insekt, will nicht aufgespießt werden von dem spitzen Kinn, das ins Leere ragt. Um diese Teile fludern Haare, die für nichts reichen, am wenigsten für die geschwollenen Ohrläppchen, die glühen wie zwei Laternen an einem Vergnügungslokal. Der magere Hals ist nur durch dicken Schmuck zu retten. Ihre Bewegungen wirken, als gebe es kein Zentrum, von dem aus sie gewollt sind. Ein haltloses Schlenkern. Die Stimme schrill. Ideal für Rechthaberei. Das zappelnde Mündchen entlässt nur Rechthaberei. Nie ein gelöstes Lachen. Immer ein auf i gestimmtes flaches Gekicher. So weit Dein Bild.
    Ach, Ulrike, durch Dich wird er zum Zwerg, der den Hochsprung übt. Feindseligkeit. Ohne Feindseligkeit gegen Ulrike kam er nicht los. Die Feindseligkeit einsetzen wie ein
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