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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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drittes. Sein Atem ging wieder, wie er sollte. Er konnte nur noch herumtappen und Dresden-Silvester-Ulrike-Silvester-Dresden denken. Sein Herz klopfte in der Brust, wieder Gefangene, der sich zu Unrecht eingekerkert sieht, gegen die Zellentür klopft. Das Herz will sich blutig klopfen. Es fühlt sich misshandelt. Er kann ihm nichts anbieten. Dass Ulrike überhaupt dieses Billet geschickt hatte, hatte ihn gewundert. Gut, die abgemachte Formel K V d O o M , aber dann die förmliche Einladung. Das war nicht Ulrikes Stil. Das war die Mutter. Die wollte ihn als Trophäe auf ihrem und Klebelsbergs Ball. Dass er da fürs Renommee sorge. Ihm egal. Hauptsache, er sieht Ulrike   …
    Stadelmann trat ein, das ganze Gesicht eine einzige Fröhlichkeit. Ja, gnädiger Herr, ja! Sie sind’s. Sie haben mich nicht gesehen. Aber sie sind’s. Alle vier.
    Danke, Stadelmann, sagte der Feldherr, abtreten. Dazu eine Militär-Geste. Stadelmann schlug die Hacken zusammen, Kehrtwendung und raus. Goethe musste noch einen Portwein trinken. Und noch einen. Das war doch gar nicht auszuhalten. Nach zwei Stunden hatte er zwei Flaschen Portwein leer getrunken. Gehen konnte er kaum noch, aber sitzen. Und denken. Jetzt war er froh, dass er der Feldherr war. Feigheit war vorgekommen. Feigheit vor dem Freund. Die Levetzows hatten sich davongestohlen. Sie erwarteten ihn erst am 31.   Dezember. Dass er ihr Renommee vergrößere. Aber doch nicht schon heute. Heute hatten sie   … egal, was sie heute hatten. Mit ihm hatten sie nichts. Nichts mehr. Nie mehr. Jetzt war er froh, dass er versucht hatte, dem Gefühl nachzugeben, das sich in den letzten Tagen in ihm bilden wollte: Scham. Jetzt war an diesem Gefühl nicht mehr zu zweifeln. Er schämte sich vor sich selbst. Und das in einer Heftigkeit, die sonst nichts mehr übrig ließ in ihm. Erst jetzt, nach dieser neuesten Erfahrung,war er sich dieser Scham ganz gewiss. Die sagte: Du bist weg davon. Das Brillen-Vorurteil seines Romanhelden, jetzt verdammte er es nicht mehr. Hättest du eine Brille getragen, hättest du die Familie erkannt, sie hätten zu dir kommen müssen, und das haben sie doch gar nicht gewollt. Irgendwo, er wusste nicht mehr, wo, hatte er geschrieben, ein Tier kennt keine Apparate, es nimmt nur wahr, was die Natur uns ermöglicht. Und was ermöglicht sie nicht alles. Jetzt konnte er ergänzen: Und verhindert das Unmögliche. Das Unmögliche war verhindert worden. War das eine Leichtigkeit jetzt? Eine Leichtigkeit, die er noch nicht empfunden hatte. Die hieß Lieblosigkeit. Ja. Nie gekannt. Nie erlebt. Aber anders konnte er dieses Gefühl nicht buchstabieren. Er war frei. Kein Zweifel möglich, er war lieblos. Lieblosigkeit, spürbar, eine Geräumigkeit wie noch nie, bitte, sei’s Leere, eine Nichtempfindung, die alle Empfindungen übertraf, er ist erlöst, frei, das ist überhaupt Freiheit, lieblos sein, lieblos, freudlos, leblos, schmerzlos, ihn wird nie mehr jemand quälen können. Auch er selbst nicht. Die Kreatur ist erlöst. Was Moses, vom Aufstieg auf den Gesetzgebungsberg erschöpft, überhört hatte, das allererste Gebot, tragödienträchtiges Versäumnis für alle Zeit, er, auf seinem eigenen Sinai angekommen, erschöpft auch, aber kein bisschen schwerhörig, hellhörig wie noch nie, hat er das Gebot gehört und begriffen: Du sollst nicht lieben.
    Er legte sich ins Bett. Keine Gedanken mehr, gegen die er sich erfolglos hätte wehren müssen. Er spürte nur noch sich. Außer ihm nichts. Als fülle er die Welt aus. Die ganze Welt war er. Prall vor Leichtigkeit. Eine göttliche Schwere.Leichtigkeitsschwere. Endlich. Das verlorene Gleichgewicht? War es das? Dachte er. Schlief ein. Schlief ohne Unterbrechung weit in den nächsten Tag hinein.
    Als er aufwachte, hatte er sein Teil in der Hand, und das war steif. Da wusste er, von wem er geträumt hatte. S w s w.

Letzte Nachricht
    Frau Marie Schäfer, die dem Edelfräulein von Levetzow 16   Jahre als Kammerzofe diente, berichtet über den 12.   November 1899:
    Als Ulrike von Levetzow sich am Vorabend zu Bette begab, netzte ein kalter Schweiß ihr Antlitz, und im Vorgefühle ihres nahen Endes gebot sie, ein Päckchen Briefe, deren Inhalt niemanden bekannt geworden, auf einer silbernen Platte zu verbrennen. Die Asche wurde in einer silbernen Kapsel verschlossen, mit dem Wunsche, dass nach ihrem Ableben dieses für sie unschätzbare Andenken in den Sarg gelegt werde. Dies ist auch geschehen. Um vier Uhr morgens erwachte sie mit
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