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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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1.
    Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen. Als sein Blick sie erreichte, war ihr Blick schon auf ihn gerichtet. Das fand statt am Kreuzbrunnen, nachmittags um fünf, am 11.   Juli 1823 in Marienbad. Hundert feine Gäste promenierten, das Glas mit dem jedes Jahr noch mehr gerühmten Wasser in der Hand, und wollten gesehen werden. Goethe hatte nichts dagegen, gesehen zu werden. Aber er wollte gesehen werden als jemand, der mehr im Gespräch war als auf der Promenade. In diesen Julitagen war er immer mit dem Grafen Sternberg im Gespräch. Gut zehn Jahre jünger als Goethe und Naturforscher. Goethe war es gewohnt, obwohl er es nicht gewohnt werden konnte, dass so gut wie alle Naturwissenschaftler für seine Farbenlehre im besten Fall ein spöttisches Bedauern erübrigten. Begegnete er einem, der die Farbenlehre gelten ließ, konnte er sich vor Freundlichkeit, Dankbarkeit, Rührung jeder Art oft fast nicht mehr beherrschen. Kaspar Graf Sternberg war so ein Naturwissenschaftler, hatte ein Buch über die Flora der Vorzeit geschrieben, das heißt, er konnte lesen, was die Steine bewahrt hatten. Und Steine waren inzwischen Goethes liebstes Forschungsfeld. Aber jetzt, in diesen Julitagen, war es noch ein anderer Umstand, der den Grafen über alleNaturwissenschaft hinaus für Goethe anziehend machte. Im vergangenen Jahr hatten beide in dem als Kurhotel betriebenen Palais des Grafen Klebelsberg gewohnt. Und die Levetzows wohnten da auch. In Amalie von Levetzows Salon hatten sie sich kennengelernt. Wir kennen uns doch, hatte Goethe gerufen, wir kennen uns schon aus Vorzeiten. So hatte er auf Sternbergs Buchtitel angespielt und war auf den Grafen fast eilig zugegangen und hatte ihn umarmt. Das fiel auf, weil er sonst, wenn eine Bekanntschaft zu machen war, stehen blieb und dem anderen oder der anderen Gelegenheit gab, sich ihm zu nähern. Wir haben beide den Donnersberg bestiegen, bei Teplitz droben, Baronin, und ein jeder von einer anderen Seite, und sind, das haben wir einander geschrieben, beide auf der Zinne angekommen. Sie seien überhaupt zwei Reisende, hatte der Graf gesagt, die, aus zwei verschiedenen Welt- und Geschichtsgegenden kommend, einander begegnet seien und, als sie ihre Erfahrungen verglichen, gesehen hätten, dass es ein Vorteil sei, auf verschiedenen Wegen zu ein und demselben Ziel zu gelangen.
    Jetzt, auf der Promenade, ließ Goethe sich vom Grafen Sternberg berichten, dass der schwedische Chemiker Berzelius gerade festgestellt habe, das vulkanische Gestein in der Auvergne sei erstaunlich eng verwandt mit dem hier auf dem Kammerbühl.
    So ein Gespräch schützt die Sprechenden, wo auch immer es stattfindet. Es war Goethe, der heute mehr als einmal über das Gespräch hinausschaute. Goethe war kurzsichtig, aber Brillen fand er entsetzlich, das wusste in seinen Kreisen jeder Brillenträger und nahm seine Brille ab, wenn ervon Goethe empfangen werden wollte. Brillen verstimmen mich, hatte er gesagt, und was der berühmte Dichter sagte, wurde weitergesagt. Er hätte die, die er suchte, von weitem nicht erkannt, aber Amalie von Levetzow mit ihren Töchtern Ulrike, Amalie und Bertha, die in diesem Jahr neunzehn, sechzehn und fünfzehn Jahre alt waren, diese Gruppe würde er auf jede Entfernung und in jeder noch so bunt bevölkerten Promenade ausmachen. Das geschah. Obwohl das Verhältnis der Gestalten zu einander sich geändert hatte. Ulrike war jetzt die größte, deutlich größer als ihre Mutter.
    Ohne des Grafen Vortrag über die Verwandtschaft der Steine der Auvergne und des Kammerbühls zu unterbrechen, lenkte er sich und den Grafen auf die Levetzow-Gruppe zu und begegnete Ulrikes Blick. Sie hatte ihn entdeckt, als er sie noch nicht entdeckt gehabt hatte.
    Ihn durchschoss eine Bewegung, eine Welle, ein Andrang von innen, im Kopf war es Hitze. Er spürte, dass es ihm schwindlig werden könnte. Er versuchte durch Ausatmen die wie im Krampf erstarrte Stirn- und Augenpartie zu lockern, zu lösen. Er durfte, nachdem man einander ein Jahr lang nicht gesehen hatte, das Wiedersehen doch wohl nicht mit einer Grimasse aus Staunen, Schmerz und Bestürzung feiern.
    Also. Die Begrüßung. Die junge Mutter war deutlich lebhafter als jede ihrer Töchter. Ulrikes steter Blick, kannte er den noch vom vergangenen Jahr? Ihr und sein Blick blieben in einander. Als es nicht mehr auszuhalten war, als endlich etwas gesagt werden musste, sagte er: Bitte, begreifen Sie, liebe Umstehende, ich studiere nicht nur Steine,sondern
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