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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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zukunftsreichen Töchter als ganz unvorbildlich zu gelten, sagte er eher vor sich hin als in den Kreis hinein, er habe keinen Tabak geraucht, nie Schach gespielt, alles vermieden, was einem die Zeit raubt.
    Und Ulrike: Das klang, als bedauerten Sie, so vorbildlich gelebt zu haben.
    Wenn er schließlich im Schoß der paradiesischen Familie Levetzow gelandet sei, sagte er, könne nicht alles, was er gemacht habe, falsch gewesen sein.
    So war das hingegangen.
    Eigentlich hatte er nur Gelegenheiten gesucht, ihrem Blick zu begegnen. Das wusste er, als er dann über der Straße drüben in seinen bescheidenen Räumen, die er liebte, am Fenster stand und hinüberschaute ins recht gewaltige Klebelsberg’sche Kurhotel, hinüber zu den Fenstern im zweiten Stock, hinter denen Ulrike jetzt stand, saß, lag, las, dachte   … Wie konnte er leben mit diesem Blick? Wahrscheinlich war es schon im vergangenen Jahr zu spät gewesen. Er war krank geworden im letzten Winter, schwer krank. Er hatte ihr geschrieben. Sie hatte geantwortet. Es war etwas. Aber was es war, hatte er erst heute erlebt. Ihre paar Briefe waren schon so gewesen, dass er sie niemandem zeigen durfte. Seine Briefe an sie waren immer nur zur Hälfte dem Schreiber John diktiert worden. Jedes Mal musste er selber noch etwas dazuschreiben, was keinerleiInhalt zeigen durfte, aber verraten sollte, was durch Inhaltslosigkeit verheimlicht wurde. Es durfte nie an Ulrike allein, es musste immer auch an die Mutter geschrieben werden. Und doch und doch, das war alles erträglich. Einem weiteren Sommergeplänkel ließ sich entgegensehen. Dann dieser Blick, der alles veränderte. Da musste Sesenheim auftauchen, Friederikes bloße Mädchenhaftigkeit. Augen, in denen es heftig zuging, aber alles immer so schnell wechselnd, als müsse jede Stimmung, wenn sie deutlich werden will, sofort verlassen werden. Friederikes Mund wusste so wenig, was er tat, dass du ganz von selbst ihre Ignoranz und Neugier durch die deine ergänztest. Und Charlotte Buff, die große Sentimentale, die das Universum in einen Seufzer fasste und es darin untergehen ließ. Er steigerte, was sie in ihm geweckt hatte, ins Allergrößte. Werthers Lotte. Mit Recht beschwerte sie sich nachträglich über das, was er in der Novelle aus ihr gemacht hatte. Werthers Lotte, das war er, genau so wie Werther. Und Christiane, das große Gefühl, das sich nicht zu groß war für jede Anpassung. Es gab keine Situation, die sie nicht durch Unterwerfung beherrschte. Dann Marianne, die ganz und gar verwandt sein wollte und es durch eine ungeheure Seelenenergie auch schaffte, sich bis zur Selbstauflösung anzuverwandeln. Aber das nur als Kostümball. Als kulturelle Sensation. Als literaturgeschichtliche Prachtsanekdote. Und Ulrike. Zwei Jahre Mädchenzauber aus lauter stimmungsvollen So-nicht-Gemeintheiten. Noch im vergangenen Jahr eine feine Unerwecktheit, ein lebhaftes Dabeiseinwollen, immer bemüht, nichts falsch zu machen, eine Landschaft, über der die Sonne noch nicht aufgegangenist, und jetzt, die Sonne ist aufgegangen, die Landschaft lebt. Jetzt ihr Blick. Es gibt keine Gegenwehr. Du wüsstest nicht, wogegen du dich wehren solltest. Du bist gefangen. Gefangener dieses Blicks.
    Er musste noch an den Schreibtisch. Diese Ulrike, die Contresse Ulrike gehört in den Roman, in die höchst fällige zweite Fassung seines Wanderjahre-Romans. Hersilie ist die Figur, die er durch die Contresse bereichern kann. Aber darüber nie ein Wort zu Ulrike. Auch wenn du ihr zu gern hinplaudern würdest, dass sie in deinen Roman kommt, beherrsch dich! Man darf einer Quelle nicht sagen, dass sie eine ist. Sie wäre dann nicht mehr rein.
    Er konnte nicht ins Bett. Nur jetzt nicht hinein in jene Selbstverlorenheit, die Schlaf heißt. Wenn er hoffen könnte, von ihr zu träumen, dann ja. Aber so! Eine Wachheit, in der er ununterbrochen an sie denken, sie sich vorstellen konnte, eintauschen gegen einen Schlafzustand, in dem sie höchstwahrscheinlich gar nicht vorkommen kann. Noch nicht.
    Auf und ab gehen. An jedem Fenster stehen bleiben. Hinüberschauen. Hinter welchen Fenstern schläft sie? Letztes Jahr hatte auch er im Klebelsberg’schen Haus, das sowohl ein Palais wie ein Hotel genannt wurde, gewohnt. Abgesehen davon, dass die junge Witwe Levetzow die Lebensgefährtin des Grafen Klebelsberg war, hatte Ulrikes Großvater Broesigke im Palais ein ewiges Hausherrenrecht. In diesem Jahr wollte auch der Großherzog Carl August in Marienbad kuren, und
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