Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
umarmte er Dr.   Rehbein sanft und sagte ihm fast ins Ohr, die Chirurgen-Rühmung sei doch nötig für die Handlung des Wanderjahre-Romans, zu dessen Bestand Der Mann von fünfzig Jahren gehöre. Und dieser Roman sei, obwohl vor zwei Jahren erschienen, alles andere als fertig. Täglich werde er von Sätzen und Figuren bedrängt, die dazugehören wollen. Und Wilhelm, der Held der Wanderjahre, soll doch, wenn er alle Angebote der Welt studiert und erprobt habe, Wundarzt werden, also Chirurg. Und warum? Weil der Autor seinem ein Leben lang beschriebenenWilhelm den Beruf auf den Leib und in die Seele schreiben wolle, durch den er den Menschen am meisten helfen könne. Nützen, Herr Doktor. Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen. Da wollen wir doch alle hin, Herr Doktor. Und hatte ihm gleich noch glaubhaft sagen können, dafür sei er, Dr.   Rehbein, selber ein Beispiel. Wer, wie er, ein Arzt, mit fünfzig so wohl, so wirklich schön dastehe, der habe nichts versäumt, nichts falsch gemacht. Es folgte ein langer Händedruck.
    Der Doktor war gegangen mit des Geheimrats herzlicher Zusage, dass er an der Verlobung gern teilnehme. Goethe saß und dachte: Dreißig Jahre jünger. Das war nicht Neid, was er empfand. Er fühlte sich durch diesen Besuch bestätigt. Ach ja, Neid auch. Was ist denn Neid anderes als eine zum Unglück verurteilte Form der Bewunderung. Es können sich jetzt gar nicht genug Fünfzigjährige mit Zwanzigjährigen verloben! Es soll eine Verlobungsepidemie ausbrechen. Einfach, dass er mit seiner ungeheuerlichen Zahl – 74 minus 19 ist gleich 55 – nicht ganz so absurd dasteht.
    Wie belebend Dr.   Rehbeins Besuch wirkte, sah er daran, dass er den Doktor, der ja jetzt über die Straße hinüber ins Palais Klebelsberg gehen würde, unter der Tür noch so beiläufig wie möglich gebeten hatte, drüben alle Levetzows zu grüßen, speziell Ulrike, und ihr auszurichten, ihr gestern geäußerter Wunsch sei noch heute Vormittag erfüllbar. Jederzeit. Er bemerkte, dass Dr.   Rehbein als Bote nicht wusste, wie er das verstehen, also drüben sagen sollte, darum fügte er im Ton äußerster Unwichtigkeit hinzu: Man muss Kinder bilden, wenn sie danach verlangen. Dann beobachtete er, sich am Vorhang haltend, wie Dr.   Rehbeinüber die Straße ging und drüben im Palais Klebelsberg verschwand.
    Schreiber John wurde informiert, dass er nachher die Post erst ins Arbeitszimmer zu bringen habe, wenn das Fräulein von Levetzow da sei und Platz genommen habe. Vielleicht hatte Ulrike vergessen, dass sie gestern gesagt hatte: Aber wer ist er! Wenn sie das vergessen hatte, war es eine Floskel gewesen, dann war alles, ist alles eine Floskel, und er ist nichts als ein Illusionist. Kein Vulkanist, kein Neptunist, sondern ein Illusionist. Vielleicht gibt es ihren Blick gar nicht, vielleicht ist sie mit ihren neunzehn Jahren die Ruhigste, Bestimmteste, Unbewegbarste in dieser Familie.
    Er musste kurz einen Schrei ausstoßen. Eine Verneinung dessen, was ihm gerade als Selbstgespräch passiert war. Gleich noch einmal diesen kurzen Schrei. Und weil es seine Gewohnheit war, alles, was ihm passierte, nicht nur passieren zu lassen, sondern sich bewusst zu machen, dass es ihm passierte, ließ er sein Selbstgespräch sich fortsetzen: Wenn ich Schreie ausstoße, kurze, nicht zu laute Schreie, dann immer so, dass nur ich meine Schreie höre. Ich will wirklich nicht, dass jemand außer mir hört, dass ich schreie. Überhaupt: Noch musste er nicht schreien. Nur sitzen und warten. Wenn sie nicht kommt, wird er hier sitzen und sich nie mehr rühren. Ein Mensch, beim Warten erstarrt. Er wunderte sich, dass der Schmerz, den das Warten ihm bereitete, ihn nicht zu irgendeiner Bewegung, einem auflösenden Hin- und Hergehen fähig machte. Das wollte er sich demonstrieren. Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts. Er, bitte, er hier jetzt, der nicht mehr weiß, wie er ohne Ulrikes Zuspruch Atem holen soll, erhat im vergangenen Jahr im Kreis dieser Familie getönt, wie sehr er sich wünsche, noch einen Sohn zu haben, der müsste dann Ulrikes Mann werden, er selber möchte Ulrike so ausbilden, dass sie ganz zu seinem Sohn passe. Den, der so getönt hatte, so väterlich verlogen, kannte er nicht. Denn das war schon damals verlogen gewesen. Aber nicht moralisch verlogen, sondern ein Schwächeausbruch, eine Lebensfeigheit. Nie mehr könnte er so etwas sagen. Aber Ulrike war damals auch noch nicht Ulrike gewesen. Eine mädchenhafte Eingeschlafenheit war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher