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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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da er mit den Familien Broesigke, Klebelsberg und Levetzow seit langem befreundet war, musste er in deren Haus wohnen. Und zwar im ersten Stock, in der Fürsten-Suite, die Goethe im Jahr davorbewohnt hatte. Carl August war bald seit fünfzig Jahren Goethes Landesherr, Goethes Chef und Goethes Freund. Goethe hätte wieder im Klebelsberg-Palais wohnen können, aber er hatte die Goldene Traube gegenüber vorgezogen. Und nach dem, was jetzt passiert war, musste er sich wundern über den weisen Instinkt, der ihn ins Haus gegenüber gelenkt hatte. Jetzt mit ihr unter einem Dach, aber getrennt durch Stockwerk und Wände. Er hätte irgend ein Geräusch erfinden müssen, das bis zu ihr gereicht hätte, um ihr zu melden, dass er da sei und nicht atmen könne, wenn sie nicht erfahre, spüre, höre, dass er da sei. Und nur für sie da sei. Sie hat ein kleines Gesicht. Trotzdem eine Nase, die man nicht Näschen nennen darf. Und zwetschgensteinförmige Augen, die eben die Farbe wechseln. Aber glänzen tun sie immer. Das hatte er schon aus den vergangenen Jahren mitgenommen: diese nie müden, nie matten, diese immerzu blau und grün leuchtenden Augen. Meistens sind sie doch nicht blau oder grün, sondern blaugrün. Er musste sich ihrem Mund zuwenden. Kein Lippengebirge, eine volle und ganz harmonisch verlaufende Oberlippe, die sich auf die bescheiden dienende Unterlippe verlassen kann. Fast ein bisschen einsam, dieser Mund in der unteren Gesichtshälfte. Die Nase bleibt auch für sich. Sie hat eine eher ahnbare als wahrnehmbare Brechung. Sie will einfach nicht spannungslos und langweilig gerade verlaufen. Wer nicht richtig hinschaut, glaubt, sie ende spitz. In Wirklichkeit endet sie in einer zuletzt noch gerundeten Spitze. Sie endet eben, wie eine Nase über diesem einsam schönen Mund enden muss: zu ihm hinführend, ohne ihm zu nahe zu kommen. Eine grandiose Unaufdringlichkeit hatdieses Gesicht. Hat die ganze Ulrike. Jetzt bereute er, dass er immer nur Landschaften und nie Menschen gezeichnet hatte. Dieses Ulrike-Gesicht ist allerdings auch das erste Gesicht in der Lebensgalerie seiner Gesichter, das er gern gezeichnet hätte. Es ist eine Landschaft im Licht. Wenn er kein Zeichner, sondern ein Maler wäre, hätte er gesagt: in einem überirdisch strahlenden Licht. Das könnte man malen, zeichnen nicht.
    Er musste vor den großen Spiegel im Ankleidezimmer. Lampen auf beiden Seiten des Spiegels.
    Der Wirt der Goldenen Traube war ortsbekannt als Lichtfanatiker. Er ließ keine Messe aus, auf der eine neue Lampenart zu erhoffen war. Das war eine Nachricht, die dem Geheimrat die Wahl dieses Hotels angenehm gemacht haben konnte. Er brachte die Hände auf dem Rücken zusammen, das ergab seine eingeübte, stattliche Erscheinung. Er musste hinüber ins Arbeitszimmer und aus einer Schublade die Wiener Zeitschrift holen, die ihm ein Herr Braun von Braunthal zugeschickt hatte, weil er, der einundzwanzigjährige Dichter, seinen Besuch bei Goethe in Weimar beschrieben hatte. Goethe lachte jedes Mal, wenn er in diesem Report den Teil las, und er las immer nur den, der sich mit seiner Erscheinung beschäftigte:
    In jenem Augenblicke aber war mir das nicht die banale Hülle eines Zivilisationsmenschen; Goethe erschien mir da, indem er eine Sekunde lang bei der Türe anhielt und mich ins Auge fasste, wirklich wie ein Standbild des Zeus aus parischem Marmor. Dieses Haupt! Diese Gestalt! Diese Haltung! Schönheit, Adel, Hoheit! Bereits einGreis von dreiundsiebzig Jahren, das wellenförmig um den starken Nacken fallende Haar weiß wie frischgefallener Schnee, die edlen Züge noch fest, die Muskeln noch stramm, die hochgewölbte Stirne glatt und rein wie von Alabaster, die Lippen mit dem unverkümmerten Ausdruck von Selbstgefühl, Würde und Milde zugleich, das kraftkündende Kinn noch ungesenkt, und endlich diese Augen, diese herrlichen himmelspiegelnden reinen blauen Miniatur-Bergseen! Von allen seinen Abbildungen, die mir bis dahin zu Gesicht gekommen, entsprach auch nicht eine dieser bewundernswerten Gesamtheit von Größe, Schönheit und Kraft; man konnte, im höchsten Aufwande der Kunst, solchen Verein wohl, wie es auch geschehen, plastisch gestalten, aber nie in einem Farbenbilde wiedergeben; dies ebenso wenig, als man den Monte Rosa oder Mont Blanc, verklärt von den Strahlen der untergehenden Sonne, zu malen vermag. So erschien Goethe, und mein Geist huldigte ihm. Wie pries ich mich glücklich, ein noch nicht bedeutender, ein angehender Mensch
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