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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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zu sein; wusste ich ja doch, dass er vielsagenden Männern, ganz fertigen Menschen bisweilen den Zutritt verweigerte, und sah ich ja an seinem Negligé, dass er bei mir entweder eine Ausnahme oder mit mir wenig Umstände machte. Er fasste mich ins Auge wie die königliche Boa Constrictor ein Reh. Nur zermalmte er mich nicht, sondern schritt langsam dem Diwan zu, dem «westöstlichen», mich mit sanfter Handbewegung einladend, ihm zu folgen und dann – o Wonne – an seiner Seite mich niederzulassen. Er begann mildernst das Gespräch, und dabei empfand ich durch alle Glieder einen wohltätig erschütterndenelektrischen Schlag, der davon herrührte, dass der herrliche Dichtergreis meine Hand, meine vor Entzücken und Verehrung zitternde Hand, sanft erfasste und mit seinen beiden Händen weich umrahmte, wobei er, den Blick auf mir ruhen lassend, also sprach   …
    Er legte die Zeitschrift mit einander widerstreitenden Empfindungen in die Schublade zurück, ging wieder hinüber vor den Spiegel, lächelte ein wenig und sah die Lücke, in der einer seiner Vorderzähne fehlte. Seit dreizehn Jahren. Er hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Allerdings hatte er seine Mundpartie so diszipliniert, dass die Lücke in Gegenwart von Leuten nie erschien. Hoffte er. Die Schwiegertochter Ottilie hatte er beauftragt, darauf immer zu achten und ihm, wenn die Lücke durch irgendwelchen Stimmungsübermut zu sehen gewesen war, Meldung zu erstatten. Er fand, Ottilie habe diese Meldungen immer mit etwas zu greller Lust exekutiert. Sich selber verbarg er die Lücke nicht. Wenn er allein war. Also jetzt. Es war Ulrike, die sie erscheinen ließ. Als hätte er, was jetzt passierte, vorausgewusst oder befürchtet, hatte er in seinem gerade herausgekommenen Mann von fünfzig Jahren geschrieben, mit so einer Lücke um eine junge Geliebte zu werben sei ganz erniedrigend.
    Er ging ins Schlafzimmer, legte sich, wie er war, aufs Bett und suchte bei den Figuren seiner Bücher nach einem Satz, der ausdrückte, was ihn jetzt beherrschte. Es gab diesen Satz. Er hatte ihn aus dem Gedächtnis ziemlich schnell heraufgeholt. Sein Wilhelm hatte, schon als er noch jung war, gedacht: So ist denn alles nichts.

2.
    Wenn er, 74, sie, 19, heiraten würde, wäre sie, 19, die Stiefmutter seines Sohns August, 34, und seiner Schwiegertochter Ottilie, 27.   Mit solchen Rechnungen fand er sich beschäftigt, als er vor dem Frühstückstisch saß, für den Stadelmann jeden Morgen alles, was man sich wünschen darf, aus dem Traiteur-Haus holte.
    Stadelmann, den er schon im vergangenen und vorvergangenen Jahr zu einem Stein-Kenner ausgebildet hatte, schickte er heute auf den Wolfsberg, um Augite herauszuklopfen. Auch ein Feldspat-Zwillingskristall wäre hochwillkommen, gab er ihm noch mit. Dem Schreiber John sagte er, dass heute erst um elf diktiert werde. Es hatte sich nämlich Dr.   Rehbein angesagt, sein Dr.   Rehbein, Hof-Medikus in Weimar, aber auch Arzt Goethes. Und hatte viele Stunden an Christianes Sterbebett verbracht! Noch nicht ein Jahr her, dass Dr.   Rehbein die dritte Frau gestorben war. Dr.   Rehbein war vielleicht der beliebteste Mann in Weimar.
    Als Goethe in dem Zimmer, in dem er Gäste empfing, erschien, kam ihm Dr.   Rehbein, der dort gewartet hatte, stürmisch entgegen. Gerade dass er Goethe noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle, von denAtemwegsmiseren des vergangenen Winters ganz und gar befreit, da sprudelte er los. Er will sich verloben. Er muss. Wenn er sich nicht sofort verlobe, verliere er Catharina, ja, die dreißig Jahre jüngere Catty von Gravenegg. Da er ohnehin dem Herzog habe vorausreisen müssen, bleibe nichts anderes übrig, als die Verlobung hier in Marienbad zu feiern. Das aber ohne Teilnahme des Herrn Geheimrat zu denken sei ihm nicht möglich. Für die unschöne Eile entschuldige er sich. Aber Catty. Sie verstehen. Er kann doch nicht hier der Durchlaucht den Badearzt spielen, was übrigens nicht erlaubt ist, die hiesigen Badeärzte haben das Monopol, gut, ist er eben ein Badegast im Gefolge Seiner Durchlaucht und so weiter, aber hier wochenlang spazierenschauen, und Catty braust durch München, das ist ungesund, also kommt sie, also gibt’s eine Verlobung. Gestehen müsse er aber doch noch, wie es ihn geschmerzt habe, jetzt im Mann von fünfzig Jahren zu lesen, der Chirurg sei der verehrungswürdigste Mann auf dem ganzen Erdboden.
    Goethe ergänzte: Er befreit dich von einem wirklichen Übel. Dann
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