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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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Vorhang geschmiegt, nach, wie sie hinüberging. Wie sie ging. Sie schien bei jedem Schritt abheben zu wollen. Sie ging, als gehe sie aufwärts. Aber völlig mühelos. Sie war ungeheuer leicht. Weil er ihr nicht nachrufen konnte, was er empfand, holte er das Gedicht heraus, das er ihr vor ein paar Tagen geschrieben hatte, weil sie einander auf der Promenade verpasst hatten. Als er es ihr hatte geben wollen, sagte sie, sie möchte es zuerst von ihm vorgelesen hören. Das tat er.
    Am heißen Quell verbringst du deine Tage,
    Das regt mich auf zu innerm Zwist;
    Denn wie ich dich so ganz im Herzen trage,
    Begreif’ ich nicht wie du wo anders bist.
    Schön, hatte sie gesagt.
    Und er: Ja?
    Und sie: So angeredet zu werden ist schön.
    Er war mit ihr per Du in dem Gedicht.
    Dann hatte sie gesagt: Wir müssen uns öfter verpassen.
    Jetzt setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb hin: Die lieblichste der lieblichsten Gestalten. Und hatte das wohltuende Gefühl, sich wieder einmal übertroffen zu haben.

3.
    Jetzt sah man ihn nie mehr ohne sie. Und sie nie mehr ohne ihn. Das sahen alle. Und Goethe sah es, dass ihn alle sahen. Mit Ulrike am Arm. Er genoss die Blicke, die zum Getuschel geneigten Köpfe, und er sorgte immer dafür, dass Ulrike und er mit einander sprachen. Er führte sich und Ulrike als ein diskutierendes Paar vor, als ein immer von irgend etwas schwärmendes Paar, als ein Paar, das sich mehr zu sagen hatte als alle anderen Paare der Welt. Dass dieses Paar, das so im Gespräch in einander verhakt war, nicht gestört werden durfte, musste jedem klar sein, der, sein Glas in der Hand, auf der Promenade jemanden suchte, mit dem er schwätzen könnte. Goethe musste aber nicht nur ihre Unstörbarkeit demonstrieren, sondern auch aufpassen, ob unter den Spazierenden jemand auftauche, den er Ulriken servieren konnte, einfach weil der so bedeutend, so berühmt war, dass es für Goethe spräche, Ulrike eine solche Berühmtheit zu servieren. Im vergangenen Sommer hatte er das mit der Gräfin Strachwitz praktiziert, als Spiel, hatte ihr gesagt, sie und er würden sich jetzt promenierend so von einander hingerissen unterhalten, dass kein gelangweilter Promenierer sie zu stören traue. Das war ein Spiel. Jetzt war es ernst.
    Da sie, die Straßburger Internatsschülerin, an allem Französischen interessiert war, öffnete er ihre Situation, wenn er den Grafen Saint-Leu kommen sah. Das war Napoleons Bruder Louis Bonaparte, zuerst noch König von Holland, dann mit dem Bruder zerstritten, dann Graf Saint-Leu und Goethe seit Jahren zugetan, weil er Gedichte machte und jeden Sommer darauf wartete, wie Goethe die neuesten Gedichte finde. Goethe fand sie gar nicht so schlecht, also ließ er den Grafen jetzt zu und sagte ihm etwas Freundliches über die Gedichte und bat um die Erlaubnis, sie auch bald dem Fräulein von Levetzow zeigen zu dürfen, die als Internats-Straßburgerin mit der französischen Literatur mehr sympathisiere als mit der deutschen. Aber Goethe sorgte auch dafür, dass solche zugelassenen Eindringlinge nicht bleiben durften. Als sie sich vom Grafen Saint-Leu verabschiedet hatten, sagte er zu Ulrike, sein Schreiber John sei gerade damit beschäftigt, für den Grafen eine Liste aller Goethe-Schriften seit 1769 zu produzieren, die er dann ins Französische übersetzen lasse. Wozu ihr Urteil ihm sehr willkommen wäre. Natürlich wollte Ulrike über Napoleon selbst mehr wissen als über den Gedichte schreibenden ehemaligen König von Holland. Da konnte Goethe dienen. Am Tag der Völkerschlacht von Leipzig fiel in seinem Arbeitszimmer in Weimar das Napoleonbild, ein Gipsrelief, vom Nagel, einfach so. Und Napoleons Augen, das wollte er erwähnen, Napoleons Blick, vor dem jeder sich fürchtete. Durchdringend scharf, stechend sei dieser Blick, hieß es. Goethe fand das bei seinen drei Begegnungen mit dem Korsen überhaupt nicht. Er hatte einen steten Blick, sagte Goethe und schaute Ulrike an. Erzwinkerte nicht, nie. Als wären die Augenlider aus Stein. Das ist bei Ihnen sicher nicht so, Ulrike, aber diesen steten Blick haben Sie auch. Sie zwinkern nie. Und es gibt aus dem Altertum eine Meldung, dass man daran Götter und Menschen unterscheiden kann. Menschen zwinkern, Götter nicht. Und sah sie an, und sie sah ihn an. Das auf der Promenade, hundert Schritte vom Kreuzbrunnen.
    Sie brach den Bann. Sie sagte: Aber zu Ihnen war er eben immer freundlich.
    Ja, sagte Goethe. Angeblich habe er den Werther siebenmal gelesen.
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