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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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Natürlich hatte er eine Stelle gefunden, die er kritisieren musste.
    Jetzt bin ich aber gespannt, sagte Ulrike.
    Dass ich die Motive, sagte Goethe, damit eins das andere steigere, vermischt habe. Werther liebt nicht nur unglücklich, er wird auch noch in seinem Karriere-Ehrgeiz gekränkt. Da steigert ein Unglück das andere. Das, fand Napoleon, sei ein Fehler. Das fand er nicht naturgemäß. Das schwäche die Figur des Werther, der ja doch als Liebender unglücklich werden müsse. Die Liebe, die unglückliche Liebe hätte der einzige Grund für seinen Untergang bleiben müssen.
    Stimmt, sagte Ulrike.
    Er habe auch Napoleon nicht nur widersprochen, habe aber doch sagen müssen, dass es dem Künstler um den Effekt gehen müsse, und da sei eben Steigerung, Übertreibung geboten.
    Aber Napoleon hat doch recht, sagte Ulrike. Dass Werther auch durch den Beruf unglücklich wird, heißt doch, nur als unglücklich Liebender war er nicht so unglücklich,dass er sich deswegen hätte töten müssen. Das macht ihn kleiner, alltäglicher, uninteressanter.
    Aber glaubhafter, sagte Goethe. Man kann sich mehr identifizieren mit ihm.
    Und das ist schade, sagte Ulrike. Ein krasses Unglückswunder sollte er sein durch nichts als Liebe.
    Das hat, sagte er, in ganz Europa in fünfzig Jahren niemand gesehen außer Ulrike von Levetzow und Napoleon   I.
    Napoleon war eben eine unbedingte Natur, sagte sie. Lieber kein Effekt als ein berechenbarer.
    Goethe sagte, um seine Bedeutung für Napoleon aufzuwerten, der habe immerhin bei ihm eine Brutus-Tragödie bestellt. Wahrscheinlich versprach er sich von ihm eine gründliche Verhässlichung des Königsmörders.
    Er selber, sagte sie, ist auf Sankt Helena ohne Brutus hinausgekommen.
    Goethe musste noch anbringen, dass Napoleon ihn zum Officier de la Légion d’Honneur ernannt habe, das sei ihm damals von den braven Deutschen übel genommen worden.
    Ulrike wollte wissen, warum er seine Orden nie trage.
    Soll ich, fragte er zurück.
    Nein, sagte sie.
    Solche Übereinstimmungen wurden immer durch den Blicktausch wortlos besiegelt. Er fühlte es, mit keinem zweiten Menschen in dieser Welt konnte er eine solche Übereinstimmung erleben. Weil gerade ein Graubart vorüberkam und grüßte, sagte Goethe, der sei Quartiermeister in der Champagne gewesen, und fügte, weil Ulrike ihrenBlick samt Stirn fragend machte, dazu: Feldzug 1792.   Als er merkte, dass das für sie keine empfindbare Mitteilung war, sagte er noch dazu, den ganzen Frankreichfeldzug über habe es geregnet. Das war auch noch nichts. Also: Er selber habe sich hauptsächlich mit seinem Tagebuch beschäftigt. Manchmal gelingt einem einfach nichts. Nachdem er sich in zwei weiteren Sätzen als einen Günstling des Schicksals bezeichnet hatte, das aber auch übertrieben fand, hörte er sich übergangslos sagen, er habe niemals Gegner gehabt, Widersacher viele. Sämtliche zeitgenössischen Physiker lehnten seine Farbenlehre ab, seien Nachbeter Newtons. Und musste ihr gleich vortragen, dass seine Widersacher Licht und Auge zergliedern, obwohl in Wirklichkeit das doch nicht zergliedert vorkommt. Er habe Licht und Auge als Voraussetzung seiner Farbenlehre bestehen lassen. Da er am ersten Tag auf der Promenade Ulrikes Augen gefeiert hatte, dachte er, sie könne noch gewonnen werden für seine Ansichten. Andererseits wusste er, wenn er sich über seine Farbenlehre-Misere klagen hörte, dass er sich keinen größeren Schaden zufügen konnte als durch diese querulierenden Redensarten über die Ungerechtigkeit der Welt.
    Zum Glück ging dann ein Gewitter nieder, also erfuhr sie von ihm, dass bei Seneca stehe, die vom Blitz Getroffenen lägen immer mit dem Gesicht nach oben auf der Erde. Als Ulrike staunte, weil er so viel wisse, sagte er, das über die Blitztoten habe er vom Kriminalrat Grüner in Eger, den er jedes Jahr auf der Fahrt von Weimar nach Böhmen und auf der Rückfahrt besuche. Mit ihm habe er so gut wie alle Kuppen, Hügel und Berge hier herum bestiegen und nachmerkwürdigen Steinen abgeklopft. Von wem, wenn nicht von diesem Kriminalrat, hätte er erfahren können, dass unter Ludwig   XIV. die Schalmei verboten war, weil die Schweizer vor Heimweh daran starben. Und wenn er eintritt bei Grüner, ist immer der erste Satz: Jetzt, mein Guter, was sind Ihre neuesten Akquisitionen! Dann Grüner: Für Eure Exzellenz steht alles zu Diensten, ich habe Ihnen ja alles zu verdanken. Ach ja, Ulrike, wenn man doch nur noch mit Menschen zu tun hätte,
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