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Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte

Titel: Der Advent, in dem Emma ihren Schutzengel verklagte
Autoren: Noel Hardy
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Sarah Anne war ein Jahr alt
    S arah Anne war ein Jahr alt, und hinterher konnte niemand genau sagen, warum das Fenster mitten im Winter so lange offen gestanden hatte oder wie das Mädchen überhaupt auf das Fensterbrett gelangt war. Die Wohnung lag im elften Stock, es schneite, und Sarah krabbelte am Sims des Küchenfensters entlang und versuchte, nach den vor ihr tanzenden Flocken zu greifen.
    Zeugen erzählten später, von unten habe man nur den kleinen Kopf und eine winzige Hand gesehen, bis das Kind sich aufzurichten begann. Leicht schwankend stand Sarah in ihrem Strampelanzug aus gelber und oranger Wolle neben einem Tontopf auf dem Fensterbrett und ruderte mit beiden Ärmchen in dem wirbelnden Schneegestöber herum, bis sie das Gleichgewicht verlor.
    Nicht alle Zeugen erinnerten sich an dasselbe: man che wollten das Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens schon gesehen haben, bevor es stürzte. Andere meinten, der Strampelanzug wäre violett und rot gewesen. Und wieder andere behaupteten, das Kind hätte gar nicht nach den Schneeflocken gegriffen, sondern nach der Kresse in dem Topf. Einig waren sich alle nur darin, dass es schneite und dass nicht der leiseste Windhauch wehte, als Sarah aus dem Fenster im elften Stock stürzte.
    Jeder sah den winzigen Körper fallen. Jeder wusste auch noch, dass alle Zuschauer entsetzt aufgeschrien hatten, denn unter dem Fenster gab es nichts, was den Sturz hätte aufhalten können – keinen Baum, keine Büsche, nicht einmal einen überdachten Fahrradständer oder Müll tonnen mit Plastikdeckeln, nur nackten, vereisten Asphalt. Danach gingen die Erinnerungen wieder auseinander. Erneute Einigkeit herrschte lediglich darüber, dass eine jäh heranbrausende Sturmbö Sarah gepackt und mit sich gerissen hatte, um sie sacht auf einer gut zehn Meter entfernten Schneewehe abzusetzen, wo sie dann, noch immer selig lächelnd, von den staunenden Zeugen gefunden wurde.
    Zur selben Zeit ließ im OP 3 der Universitätsklinik ein Gefäßchirurg das schlaffe Herz, das er in den letzten fünf Minuten mit den Fingerspitzen massiert hatte, in die of fene Brust des Infarktpatienten zurückgleiten und trat vom Operationstisch zurück. Erschöpft zog er die blutglänzenden Handschuhe aus, nahm den Mundschutz ab und sagte: »Eintritt des Todes: sechzehn Uhr sieben. Sie können ihn zumachen.«
    Der Anästhesist schaltete die Geräte ab. Der Chirurg verließ den OP und murmelte: »Sieben Stunden … sieben Stunden …« Sein Assistent löste die Aderklemmen, entfernte die Rippenspreizer und begann, die Haut über dem Brustkorb des Patienten zuzunähen.
    Er war fast fertig und wollte gerade die Leuchte über dem Tisch ausschalten, als der Tote die Augen öffnete und sagte: »Ich glaube, heute probiere ich mal die Kalbsleber.«
    Nur wenig später entdeckte am anderen Ende der City – dort, wo auf dem Stadtplan das warme Rosa des Zentrums mehr und mehr vom dünnen Grün der Randgebiete abgelöst wird – die Besatzung eines Streifenwagens ein klaffendes Loch im Maschendrahtzaun einer Autowerkstatt. Der Polizeiobermeister, dem das Loch aufgefallen war, stieg aus. Langsam ließ er den Lichstrahl seiner Taschenlampe über das schneebedeckte Gelände der in völliger Dunkelheit liegenden Werkstatt wandern.
    Er bemerkte frische Fußspuren, die vom Zaun tiefer in den Hof führten und zwischen den abgestellten Fahrzeugen verschwanden. Nach kurzem Zögern zwängte er sich durch das Loch, um den Stiefelabdrücken zu folgen. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen. Weiße Flocken stoben durch den Lichtkegel seiner Lampe, bevor sie auf die Dächer der Autos fielen.
    Er sah den Einbrecher erst, als er direkt vor ihm stand. Der Mann kauerte kaum einen Meter entfernt zwischen einem Honda Accord und einem Fiat Punto. In der Hand hielt er eine automatische Pistole, die noch trocken war, obwohl Schultern und Mütze des Mannes im Lichtschein vor Nässe schimmerten. Die Mündung der Waffe wies auf den Bauch des jungen Polizeiobermeisters, dem in diesem Augenblick klar wurde, dass ihm keine Zeit mehr bleiben würde, seine Dienstwaffe aus der Halfter an der Hüfte zu ziehen. Er sah es an den Augen des Mannes: Sie starrten ihn aus dem im Schatten liegenden Gesicht an, ohne zu blinzeln. Er sah auch, wie sich der Finger am Abzug krümmte. Er schloß die Augen.
    Doch der
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