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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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der neben der Sekretärs-Arbeit und der Schreiberei immer auch den Spezialauftrag der Wetterbeobachtung, sogar der schriftlichen Fixierung des Wettergeschehens hatte, wurde beauftragt, aus Thermometer, Barometer und Wolkenbeobachtung alle möglichen Schlüsse zu ziehen. John meldete, dass ein für diese Jahreszeit untypischer Wärmeeinbruch bevorstehe. Von dem bisschen bisher gefallenen Schnee werde nichts übrig bleiben. Er meldete das mit Bedauern, da der Geheimrat als ein Genießer des harten Winterwetters galt. Goethe beherrschte sich. Ließ Stadelmann kommen, zeigte ihm sofort, dass er in der heitersten Stimmung war, weil, lieber Stadelmann, vielleicht eine rasante Fahrt nach Dresden fällig wird. Wozu haben wir die schnellste Chaise des Landes und den besten Kutscher der Welt, Stadelmann. Stadelmann sagte: Ich freue mich, gnädiger Herr. Täglich gab es jetzt kleinere Ausfahrten in die Umgebung. Dresden! Schon Madame de Staël hatte ihn vor Jahren verführerisch dringend eingeladen, sie in Dresden zu besuchen. Die Anziehungskraft hatte nicht ganz ausgereicht. Die Dame war großartig, verehrungswürdig und gescheit genug auch, aber ihm war sie zu ehrgeizig. Hingezogen fühlte er sich, so oft er ihr begegnet war. So wie sie ihn kennt, kann einennur eine Frau kennen. Sie hatte ihm die Formel geliefert für seine Art Männlichkeit: Il vous faut de la séduction. Er war kein Eroberer, sondern ein Eroberter. Ulrike, die Erste, die sich geweigert hatte, ihn zu erobern. Trotzdem, deswegen würde er fahren. Nach Dresden. S w s w.
    Am 28.   Dezember ließ er wieder einspannen für eine Spazierfahrt. Arbeiten konnte er in diesen Tagen nicht mehr. Er schämte sich vor sich selbst. Aber es nützte nichts. So vehement wie noch nie schob er alles, was ihn hemmen wollte, beiseite. Für Bedenken war er nicht mehr zu haben. Mochte das heißen, was es wollte! Was ging das ihn an! Diese ewige Benoterei! Das Leben will nicht benotet, es will gelebt werden!
    Dann also, am Mittwoch, dem 28.   Dezember, geschah Folgendes: Wie immer, wenn sie stadtauswärts fuhren, kamen sie über den Marktplatz, hielten sich auf der rechten Seite des Platzes, um dann durch die Schlossgasse zur Kegelbrücke zu kommen und auf ihr die Ilm zu überqueren. An diesem 28.   Dezember sah er drüben vor der Posthalterei neben dem Erbprinzen einen Wagen stehen, der gerade wieder bespannt wurde. Und vor dem Erbprinzen standen vier Personen, offenbar im Gespräch mit dem Posthalter. Die Wagenform zeigte auch ihm, dem Kurzsichtigen, dass es sich da nicht um Ordinairpost-Passagiere handelte. Die vier Personen: unterschiedlich groß. Alle in Pelzmänteln, die sie, weil es nicht besonders kalt war, offen trugen. Statt dicke Pelzmützen Kopftücher. Die Stimmung, in der er seit dem blauen Billet war, wollte es, dass er in den vier Reisenden vier Levetzows sah. So wie man die Namen von Berggipfeln kennt, die unter einem Namen zusammengehören,so glaubte er doch in den Größenverhältnissen die heilige Familie – so hatte er gelegentlich in reinem Spaß die Levetzows genannt – erkannt zu haben. Stadelmann musste sofort nach der nächsten Hausecke in die Kollegiengasse abbiegen und zurück durch die Seifengasse zum Frauenplan und schnell hinein in den Innenhof. Zu Stadelmann sagte er, dies sei der ernsthafteste Auftrag, den er je von ihm bekommen habe: Dort so nah vorbeizufahren, als nötig sei, um die vier Reisenden zu erkennen oder nicht zu erkennen. Er selber dürfe aber nicht erkannt werden.
    Dann rannte er seine Sechszimmerbahn hin und her, schneller, als er wollte. Trüge er, wie alle Kurzsichtigen, eine Brille, hätte er gesehen, ob sie’s waren oder nicht. Feldherr, du gehörst erschossen. Und gerade noch, ja, keine Woche ist es her, dass er die Brillenstelle in den Wanderjahren voller Wohlgefallen noch einmal überarbeitet hatte. O diese Strafe! Seinen Brillengegner Wilhelm hat er da sagen lassen: Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist. Die Brille, keine sittlich günstige Wirkung. Ich sehe mehr, als ich sehen sollte. O Wilhelm, Wilhelm! Goethe trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust, nicht heftig, aber schnell. Die Schlacht war noch nicht verloren. Wenn es Levetzows sind, dann werden sie nicht durch Weimar fahren, ohne ihn zu besuchen. Oder ist man schon spät dran? Wartet in Dresden schon jemand? Still! Kein Mucks jetzt. Er schenkte sich ein Glas Portwein ein und trank es in einem Zug aus. Und noch ein Glas. Und noch ein
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