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Ein liebender Mann

Ein liebender Mann

Titel: Ein liebender Mann
Autoren: Martin Walser
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recht hatte sie.
    Er spürte eine Entfernung zur Konversationswelt wie noch nie. Musste er seine feinsten Energien darauf verwenden, dass die notorische Fälscherin Bettina von Arnim, dass alle diese Carolinen und Charlotten so über ihn redeten, wie er es gern hätte? Er hätte Ulrike nicht vor denen verheimlichen müssen, sondern vor sich. Er hätte seine Kraft nicht in einem Affentheater der Entsagungs-Schau vergeuden dürfen, sondern im Kampf gegen Ulrikes Gegenwart in ihm selber. Den Kampf hatte er geführt. Aber nicht im Ernst. Nicht so ernst, wie dieser Kampf geführt gehört. Er hatte den Kampf geführt in dem Bewusstsein, ihn nicht gewinnen zu können, ihn nicht gewinnen zu wollen. Inseiner aufs Positive versessenen Lebensroutine hatte er sich keine Prüfung auferlegt, von der er wusste, er würde sie nicht bestehen. Sich schlechte Lebensnoten zu verpassen musste vermieden werden. Sobald er glaubte, Ulrike mit dem größtmöglichen Ernst in sich zum Verschwinden zu bringen, sah er sie vor sich im Park, unterm kreuzweise mit gelben Bändern überspannten Strohhut steht sie am Teich und füttert den Schwan. Davor, vor diesen Erinnerungsschlägen musste er sich schützen. Sich! Sich! Sich! Jetzt ist gefragt: eine Mitleidlosigkeit sich selbst gegenüber. Oder du verreckst an einem Mädchen, das von dir einiges weiß, aber nichts ahnt. Was er jetzt spürte, war alles andere als eine Kraft. Er glaubte, er könne sich genieren. Schämen. Nicht vor irgendeiner Welt oder Moral, vor keiner Sitte, keinem Anstand. Vor sich selbst. Er spürte, es bildete sich die Fähigkeit, sich vor sich selbst zu schämen. Dass er so hing, taumelte, stotterte, sich selber belog, wie er noch nie jemanden belogen hatte, wie er einen krassen Feind nicht belügen könnte. Aber sich, sich, sich belügt er mit jedem Gedanken, in dem das Mädchen auftaucht, ihn beherrscht und mit ihm macht, was sie will. Aber es ist nicht sie, er ist’s, der den Wahnsinn blühen lässt wie etwas zartschön Liebliches. Aber dieser dein Wahnsinn ist   … Sag dir nichts voraus. Gib einfach nach, lass dieses Gefühl wachsen, dass du dich schämst. Verlang nichts von diesem Gefühl. Lass es wachsen. Bis es dich zu etwas bringt, was du jetzt nicht ermessen musst. Nur die Empfindlichkeit, die dazu geführt hat, dass du die Kulissenschieberei nicht mehr erträgst, diese Empfindlichkeit lass wachsen. Mitleidlos. Mal sehen, nicht wahr.
    Aber weil alles, was wiegt, sein Gegengewicht weckt, wollte ihm ein Gefühl weismachen, die Zeit, in der er seine Abhängigkeit von Ulrike geheimhalten musste, sei eine selige Zeit gewesen. Draußen die ganze nicht in Frage kommende Welt, und er in der täglich heller leuchtenden Erinnerungshöhle mit ihren unverbrauchbaren Schätzen. Jetzt musste er die Erinnerungen vernichten. Verbergen, vor sich verbergen, das eben ging nicht   … Da traf ein, o heilige Dramaturgie, ein lavendelblaues Kuvert, darin ein ebenso blaues Billet, darauf stand: K V d O o M . Wir wollen Silvester in Dresden feiern. Falls Sie das auch wollen, freut sich Ihre ergebene Freundin Ulrike.
    Er dachte: Also doch ein Iffland-Stück. Stadelmann meldete von der Tür her die gelungene Verbrennung von allem Böhmischen. Goethe stand auf, ging hin, gab ihm die Hand, drückte ihm die Hand und sagte: Du kannst in Zukunft Haare verkaufen, wo und wann du willst. Stadelmann sagte: Gnädigster Herr, es war doch immer nur, wenn die Leute so betteln. Die Mädchen und so.
    Stadelmann war draußen, Goethe saß und kam sich vor wie ein Feldherr in einer Schlacht. Die Reiter sprengen heran, melden das, melden das, er muss entscheiden, befehlen, was zu tun ist. Er war aber kein Feldherr. Wäre er einer gewesen, dann einer, der glaubt, die Soldaten müssen selber sehen, was geht und was nicht. Er war Alcides und Antinous in einer Person, so sehr, wie es der schottische Kapitän nicht sein kann. Zu lange hatte er gezögert und dann hastig alles falsch gemacht: die Verbrennung der Marienbader Stücke im Webicht!
    Er befahl sich Waffenruhe. Seit er das Silvester-Billethatte, konnte er seine Anwesenheitspflicht ohne Ungeduld und Reizbarkeit erfüllen. Er ließ Kanzler von Müller entscheiden, wer, wie lange und wie empfangen werden sollte. Scherzte so innig herzlich wie noch nie mit Adele Schopenhauer, Julie und Linchen von Egloffstein, nannte Adele seine Lieblingin, was sie weitersagte, also musste er Julie berauschen wie noch nie und war seinen Männern ein geduldiger Kumpan. John,
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