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Sehnsüchtig (German Edition)

Sehnsüchtig (German Edition)

Titel: Sehnsüchtig (German Edition)
Autoren: Jeanne Woodtli
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    DAS GANZ GROSSE NEUE DING
     
    November 2011
     
    Alys verdreht die Augen. Die Frau im Spiegel tut es ihr gleich. „Jetzt mach schon, wir kommen zu spät“, quengelt Mascha hinter ihr.
    Resigniert greift Alys nach dem schwarzen Eyeliner. Dann schiesst ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Maschas Kleinmädchentonfall schlecht zu der 27-jährigen Frau passt, die sie ist. Eigentlich.
    Alys beugt sich etwas vor und reisst das linke Auge auf. „Ich weiss immer noch nicht, warum du da genau hinwillst“, murmelt sie und versucht, eine präzise Linie zu malen. Sie schminkt sich nicht gerne vor Mascha weil ihre beste Freundin doch viel besser ist in solchen Dingen. Noch weniger mag sie es unter Zeitdruck tun.
    Diesmal verdreht Mascha ihre Augen. Sie sind gross und mit viel grauem Lidschatten und Wimperntusche wirksam in Szene gesetzt. Augen wie Audrey Hepburn. Alys hat Mascha schon immer etwas darum beneidet. Braune Augen schienen ihr das Mass aller Dinge zu sein – schon als Kind. Vielleicht, weil ihre ganze Familie blauäugig ist. Ich hätte vielleicht doch Optikerin werden sollen statt Grafikerin.
    Mascha verlagert ihr Gewicht elegant auf das andere Bein und beginnt, die Gründe, warum sie dorthin will, an den Fingern abzuzählen. „Man muss ihn einfach gesehen haben. Er ist das ganz grosse neue Ding! Und wir waren ewig nicht mehr zusammen weg.“ Da ist er wieder, der quengelige Tonfall.
    „Ich weiss“, sagt Alys. Aber heute ist einer dieser Abende, an dem sie einfach auf dem Sofa sitzen will, die Finger an einer grossen Tasse Kaffee wärmen und nichts tun. Die Heizung tut wieder einmal schwierig und will ihre Zweizimmerwohnung nicht recht aufwärmen. Vielleicht eine DVD einschieben. „North and South“ mit dem unvergleichlichen Richard Armitage hilft immer an Abenden wie diesem.
    Alys legt den Eyeliner hin und kramt in ihrem Kosmetikbeutel. Rote Herzen tummeln sich auf dem schwarzen Stoff, der so tut als sei er Samt. Ihre Freunde spotten gern über ihre Vorliebe für Herzchen. Sie sind überall. Als Schlüsselanhänger, Medaillons, aufgedruckt auf ihren Notizbüchern, als Anhänger an ihren Halsketten, an Armspangen und sogar an Reissverschlüssen. Sie weiss selbst nicht so genau, warum. Sie gefallen ihr einfach. Und manchmal merkt sie erst später, dass sie wieder etwas gekauft hat, was in irgendeiner Form an ein Herz erinnert. Sie findet endlich die Wimperntusche und öffnet sie. Hinter ihr tritt Mascha von einem Fuss auf den anderen. Sie sagt nichts, aber Alys hört es genau.
    „Ich bin gleich fertig“. Sie versucht, ihre Stimme besänftigend klingen zu lassen. Normalerweise ist sie immer vor Mascha bereit. Ihre beste Freundin ist die Eitlere der beiden. Aber heute hatte sie ein Anruf eines potentiellen Kunden aufgehalten.
    Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel. Die Lust, auszugehen, ist nicht grösser geworden. Der wenige Schlaf der letzten Wochen hat seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Unter den Augen machen sich blaue Schatten breit. Ich sehe müde und abgespannt aus. Etwas viel Arbeit. Und die Arbeit mit etwas zu vielen späten Drinks mit Janosch kompensiert.
    Janosch. Sie verdrängt den Gedanken, bevor Mascha ihrem Gesicht ansieht, woran sie denkt.
    Alys nimmt ihre schwarze Lederjacke vom Haken, schlüpft hinein und wickelt sich den Schal um den Hals. Es ist November und kalt. Noch ein Argument, zu Hause zu bleiben. Aber sie wird Mascha nicht davon abbringen können. Wenn Mascha sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann nichts und niemand sie davon abhalten. Nicht mal Schneeregen.
    Mascha schlüpft in ihre Stiefeletten. Beim Blick auf die Absatzhöhe wird Alys schwindlig. Trotz der 12-Zentimeter-Hacken ist Mascha immer noch kleiner. Mascha Sommer ist klein geraten. Übersehen kann man sie trotzdem nicht. Sie ist eine dieser Personen, die die Sonne in einem Raum aufgehen lassen, sobald sie ihn betreten.
    „Wo ist das Konzert eigentlich?“, fragt Alys und greift nach dem Schlüsselbund. Die Schlüssel klimpern fröhlich als wollten sie ihr versichern, dass der Abend grossartig wird. Das Licht der Deckenlampe fängt sich im Schlüsselanhänger und lässt das Rot glitzern. Er hat – natürlich – die Form eines Herzens.
    „Es ist im ‚Mon Amour’“. Das ‚Mon Amour’ ist ein Club im Ausgangsquartier der Stadt, das früher als zwielichtig galt und wo das Licht so rot war wie die Farbe ihres Schlüsselanhängers. In den letzten Jahren öffneten immer mehr Clubs und szenige
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