Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schnee Im Regierungsviertel

Titel: Schnee Im Regierungsviertel
Autoren: Georg R. Kristan
Vom Netzwerk:
 
    1
     
     
     
    In dieser Nacht sollte es geschehen.
    Mitternacht, zwölf Uhr zur Geisterstunde, hatte man sich nach altem studentischen Brauch auf dem Venusberg, hoch oben über der Stadt, an einem lauschigen Plätzchen in die Arme zu nehmen und zu lieben. Das versprach Glück auf Dauer.
    In dieser Nacht stand ein voller Mond über dem Rheintal. Sein dunstiger, kreisrunder Hof ließ einen baldigen Wetterumschwung erwarten. Mildes, blaßgelbes Licht fiel durch das Blattwerk der Bäume am Kaiser-Wilhelm-Stein.
    Die blonde Verena, viertes Semester Biologie, war an diesem Abend überzeugt, ihren Doktor nicht selbst »machen« zu müssen, denn sie hatte ihn schon gefunden. Ulrich Steiner hatte ihr vor ein paar Stunden in einer gemütlichen Ecke der von Medizinstudenten geschätzten Pinte »Jonathan« ins Ohr geflüstert, daß beide Berichterstatter seine Dissertation mit einer Gesamtnote »Ganz oben« bewerten wollten. Ein befreundeter Assistent aus der Klinik hatte die hochstimmende Nachricht über das Telefon durchgegeben. Das war ein Grund, mit Kir Royal anzustoßen und den Gang zum Kaiser-Wilhelm-Stein zu wagen.
    »Ich glaube, wir sind ganz schön beschwipst«, kicherte Verena und hängte sich in Ulrichs Arm. Auf dem WDR-Sendemast leuchtete vielversprechend ein rotes Licht. Sie hatten bald das Sportgelände passiert und dichteren Wald erreicht.
    »Ein bißchen unheimlich ist es hier schon«, meinte Verena und drängte sich näher an Ulrich, als sie in den vom Mondlicht geworfenen Schatten der Bäume eintauchten.
    »Hast du etwa Angst? – Komm! Hier scheint niemand zu sein.«
    Eng umschlungen gingen sie den Waldweg entlang. Das dichte Laubdach über ihnen hielt die Dunkelheit fest. Am Denkmal wichen die Bäume zurück – und da war er wieder, der lichtspendende Mond. Scharf gezeichnet rahmten die Basaltsäulen das kupferne Medaillon von Wilhelm I. auf glattem Marmor.
    Verena wandte sich der Parkbank zu. »Komm, Ulrich. – Das ist der richtige Platz. Hier gönnen wir uns eine schwache Stunde.«
    Er lachte leise. »Halt! – Erst dem Kaiser huldigen; nur das garantiert Liebe und Glück.«
    Sie gingen vier, fünf Schritte zu dem senkrecht gruppierten Basaltgestein und ließen ihre Hände über das Medaillon mit dem Kaiserkopf gleiten. Es war kalt und beschlagen. Wie selbstverständlich fanden sich ihre Hände, bis sie die wiederkehrende Wärme fühlten.
    »So, und jetzt noch einmal die Kaiserliche Hoheit umrunden, sonst wirkt der Zauber nicht«, flüsterte Ulrich und zog Verena nach links. Sie drängte sich an ihn und ließ sich willig führen. Plötzlich verhielt sie ihren Schritt und umklammerte seinen Arm. »Du, da ist doch jemand!«
    »Wo? Ein Spanner?«
    »Nein, sieh doch, dort auf den Steinen.« Verenas Atem ging schnell und kurz. »Wirklich, da liegt jemand.«
    Beide standen eine Weile still und starrten auf den Körper, der wie vom Kreuz genommen auf den Findlingen des Sockels lag. In den geöffneten Augen stand der Widerschein des fahlen Mondlichts.
    Nur leise kamen ein paar Worte über Verenas zitternde Lippen.
    »Ulrich, ich habe Angst. Komm, laß uns schnell verschwinden; komm bitte!«
    Er hielt sie zurück und versuchte die dämmrige Dunkelheit unter den Bäumen zu durchdringen. Nichts rührte sich. Nur die Blätter raschelten leise im Wind.
    »Das ist eine Frau«, murmelte Verena, »und ich glaube, sie ist tot.«
    »Oder einfach betrunken – vielleicht braucht sie Hilfe.«
    »Aber die Augen…«
    Ulrich löste sich aus Verenas Umklammerung und ging mit kurzen Schritten zum Steinsockel vor. Vorsichtig legte er seine Hand auf die Stirn der Frau, die noch sehr jung wirkte. Die Stirn war feucht, aber nicht so kalt, wie er vermutet hatte. Behutsam hob er eine Hand hoch und ließ sie wieder los – schlaff fiel der Arm zurück. Ein paar Armringe klirrten leise.
    Ulrich richtete sich auf. »Ich glaube, die ist noch nicht lange tot. – Lauf zum Panorama-Hotel oder zu den Universitätskliniken und ruf eins eins null an. Ich warte hier.«
    »Nein, o nein!« wehrte Verena ab. »Allein gehe ich keinen Schritt.«
    »Dann gehe ich, und du…«
    »Nein!« schrie sie, bevor er den Satz vollendet hatte.
    »Also gut, gehen wir beide. Hier können wir nichts weiter tun.«
    Verena zog ihn mit sich. »Himmel hilf; ich bin vollkommen fertig. – Nun komm schon.«
    »Weißt du, wie spät es ist?« fragte Ulrich mit einem gequälten Lachen – und gab die Antwort gleich selbst: »Null Uhr – Mitternacht! Also los, rufen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher