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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom
Autoren: Val McDermid
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Kapitel 1
    B lau ist die Donau eigentlich nie. Ihre Farbe schwankt zwischen Schiefergrau, Schlammbraun, schmutzigem Rostrot, verschwitztem Khaki und den Abstufungen dazwischen, die sämtliche Träume eines an ihrem Ufer stehenden Romantikers zerstören würden. Gelegentlich hat sie dort, wo Schiffe liegen, einen öligen Glanz, wenn die Sonne auf dem Film verschütteten Treibstoffs den Regenbogenschimmer einer Taubenkehle aufs Wasser zaubert. In dunklen Nächten, wenn die Wolken die Sterne verdecken, ist sie schwarz wie der Styx. Aber heute im Mitteleuropa der Jahrtausendwende kostet die Überfahrt mit dem Fährmann etwas mehr als eine Münze.
    Vom Land wie vom Wasser aus glich der Ort einer verlassenen, heruntergekommenen Werft für Schiffsreparaturen. Die verrottenden Streben zweier Lastkähne und rostige, alte Maschinenteile, deren früherer Zweck ein Geheimnis blieb, waren alles, was man durch die Lücken zwischen den Brettern des hohen Tores sehen konnte. Hätte jemand aus Neugier auf der stillen kleinen Nebenstraße angehalten und in den Hof hineingespäht, dann hätte er sich mit dem Eindruck zufrieden gegeben, wieder einmal die letzte Ruhestätte einer kommunistischen Fabrikanlage vor sich zu haben.
    Aber es gab keinen ersichtlichen Grund, gerade in Bezug auf diesen Flussarm eine solch müßige Neugier zu hegen. Das einzig Rätselhafte an ihm war, warum jemand es selbst in den irrationalen Tagen des Totalitarismus für sinnvoll gehalten hatte, hier einen Betrieb zu errichten. In allen Himmelsrichtungen gab es im Umkreis von zwanzig Kilometern keine bedeutende Ansiedlung. Die wenigen Bauernhöfe im Hinterland hatten, wenn sie genug abwerfen sollten, schon immer mehr Arbeit erfordert, als die dort ansässigen Familien leisten konnten. Also gab es da auch keine überzähligen Arbeitskräfte. Als die Werft noch in Betrieb war, hatte man die Arbeiter von weit her mit Bussen zu ihrem Arbeitsplatz gebracht. Der einzige Vorteil war die Lage am Fluss. Vor der Hauptströmung bot eine niedrige Sandbank Schutz. Sie war mit struppigem Gebüsch und ein paar Bäumen bewachsen, die sich in die Richtung des gerade vorherrschenden Windes neigten.
    Dies blieb der hervorstechende Vorzug für die, die jetzt ganz im Verborgenen dieses offensichtliche Beispiel verfallender Industriearchitektur aus der schlechten alten Zeit nutzten. Denn dieser Standort war nicht das, was er nach außen hin zu sein schien: ganz und gar keine Ruine, sondern eher eine wichtige Zwischenstation auf einer Reise. Wenn jemand sich die Mühe gemacht hätte, sie näher zu betrachten, wäre er bald auf Ungereimtheiten gestoßen. Zum Beispiel auf die Einzäunung aus vorgefertigten Stahlbetonplatten, die in erstaunlich gutem Zustand war und deren oben befestigter Stacheldraht viel zu neu aussah, um ein Relikt aus der kommunistischen Zeit zu sein. Es waren nicht besonders viele Anhaltspunkte, aber doch Hinweise, die der lesen konnte, der sich mit der Sprache falscher Vorspiegelungen auskannte.
    Hätte ein solcher Beobachter an diesem Abend die anscheinend verlassene Werft überwachen lassen, dann hätte sich das für ihn bestimmt gelohnt. Aber als der elegante schwarze Mercedes die kleine Nebenstraße entlangglitt, gab es keine neugierigen Blicke, die ihm hätten folgen können. Der Wagen hielt kurz vor dem Tor an, und der Fahrer stieg aus. Einen Augenblick fröstelte er, als er aus der klimatisierten Wärme im Wagen in die feuchtkalte Luft hinauskam. Er suchte in den Taschen seiner Lederjacke nach einem Schlüsselbund und brauchte eine Weile, um die vier ungewohnten Vorhängeschlösser aufzuschließen. Aber dann öffneten sich nach leichtem Druck die Torflügel geräuschlos. Er zog sie vollends auf, eilte zum Wagen zurück und fuhr hinein.
    Nachdem der Fahrer das Tor hinter dem Mercedes geschlossen hatte, stiegen zwei Männer aus dem Fond der Limousine. Tadeusz Radecki streckte seine langen Beine, zog die Bügelfalten seines Armani-Anzugs glatt und holte seinen langen Zobelmantel aus dem Wagen. Es war ihm jetzt oft so kalt wie nie zuvor, und dies war ein unwirtlicher Abend. Sein Atem entwich wie dünne Rauchfahnen aus seinen Nasenlöchern. Er zog den Pelz enger um sich und musterte die Umgebung. In letzter Zeit hatte er abgenommen, und im blassen Scheinwerferlicht glich sein knochiges Gesicht einem Totenschädel, in dem nur seine haselnussbraunen Augen lebendig wirkten.
    Darko Krasic schlenderte um den Wagen herum, blieb neben Radecki stehen und hob das
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