Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom
Autoren: Val McDermid
Vom Netzwerk:
leistet.«

Kapitel 3
    A ls Tony Hill den langen Hügel nach St. Andrews hinauffuhr, schienen ihm die Sonnenstrahlen in einem ungünstigen Winkel schräg entgegen. Er klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Rückspiegel. Hinter ihm hob sich das Grün des Tentsmuir Forest von dem blauen Glanz des Firth of Tay und weiter hinten der Nordsee ab. Er warf einen Blick auf die zerrissene graue Silhouette der Stadt, Ruinen gleich neben imposanten Gebäuden aus dem neunzehnten Jahrhundert, die aus der Ferne nicht auseinander zu halten waren. In den letzten achtzehn Monaten, seit er die Stelle als Dozent für Verhaltenspsychologie an der Universität angetreten hatte, war ihm der Anblick vertraut geworden, aber er genoss diese friedliche Aussicht immer noch. Die Entfernung gab ihr etwas Zauberisches und verwandelte die Überreste des St.-Regulus-Turms und die Kathedrale in bizarre Disney-Phantasiegebäude. Und das Beste war, dass er hier so weit entfernt war, dass er sich nicht mit seinen Kollegen und Studenten abgeben musste.
    Obwohl sein Professor hatte durchblicken lassen, dass er jemanden mit Tonys Ruf als eine wesentliche Bereicherung für ihre Abteilung sehe, war Tony nicht sicher, ob er die hochgesteckten Erwartungen erfüllte. Er hatte immer schon gewusst, dass das Leben als Akademiker eigentlich nicht das Richtige für ihn war. Für die politischen Interessen und Schachzüge an der Universität hatte er kein Geschick, und bei den Vorlesungen hatte er immer noch schweißnasse Hände und zitterte vor Nervosität. Aber als ihm die Stelle angeboten wurde, schien sie eine bessere Wahl als die Arbeit, für die er sich nicht mehr geeignet glaubte. Er hatte als klinischer Psychologe angefangen und in der vordersten Linie einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt mit Serientätern gearbeitet. Als das Innenministerium anfing, sich für die Entwicklung von Täterprofilen im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zu interessieren, war er einer der nächstliegenden Kandidaten gewesen, um die Machbarkeitsstudie durchzuführen.
    Es hatte seinem Ruf fast so viel gebracht, wie es seiner Psyche geschadet hatte, dass er im Lauf der Studie unmittelbar in die Überführung eines psychopathischen Killers hineingezogen wurde, der es auf junge Männer abgesehen hatte. Dabei war er wegen seiner Feinfühligkeit fast selbst vernichtet worden. Die Intensität, mit der er persönlich in diese Sache verwickelt wurde, ließ ihn jetzt noch schreiend und schweißgebadet aus seinen Albträumen erwachen, und er spürte dann tatsächlich noch den Schmerz von damals.
    Als aufgrund seiner Empfehlung beschlossen wurde, eine Task Force zur Erstellung von Täterprofilen zu gründen, musste die Wahl unweigerlich auf ihn fallen, an der Spitze einer sorgsam ausgewählten Gruppe junger Polizeibeamter zu stehen, die er in die Erstellung psychologisch fundierter Fallanalysen einzuweihen hatte. Eigentlich hätte es eine einfache Aufgabe sein können, aber für Tony und seine Mitarbeiter wurde es zu einem Ausflug in die Hölle. Zum zweiten Mal war er gezwungen worden, die Regel zu durchbrechen, die besagte, er solle nicht in unmittelbarer Nähe des Geschehens arbeiten. Zum zweiten Mal war er schließlich in blutiges, schuldhaftes Geschehen verstrickt worden und war sich absolut sicher, dass er nie wieder in diese Lage geraten wollte.
    Seine Mitarbeit in der schattenhaften Welt der Täterprofile hatte ihn so viel gekostet, dass er es gar nicht genau zusammenrechnen wollte. Es war jetzt zwei Jahre her, und immer noch war er ständig mit der Vergangenheit beschäftigt. Jeden Tag, wenn er mechanisch die Abläufe eines beruflichen Lebens hinter sich brachte, an das er nicht wirklich glaubte, dachte er unwillkürlich wieder an das, was er aufgegeben hatte. Er hatte gute Arbeit geleistet, das wusste er. Aber letzten Endes war das nicht genug gewesen.
    Er wurde ungeduldig und stellte die Philip-Glass-Kassette ab. Musik gab ihm zu viel Raum für sinnloses Grübeln. Worte brauchte er, die ihn von seiner fruchtlosen Introspektion abhielten. Er hörte das Ende einer Diskussion über das Auftauchen neuer Viren südlich der Sahara und hielt den Blick bei der Fahrt durch die malerische Landschaft des East Neuk auf die Straße gerichtet. Als er zum Fischerdorf Cellardyke abbog, kündigten die vertrauten Piepstöne die Vier-Uhr-Nachrichten an.
    Die ruhige Stimme des Sprechers begann mit den Meldungen. »Die Berufungsverhandlung des verurteilten Serienmörders und früheren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher