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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom
Autoren: Val McDermid
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zur Tür und rückte ihm bedrohlich näher. Er sprach schnell und klar. »Ich könnte Sie jetzt umbringen. Weil ich Ihnen nicht glaube. Niemand weiß, wer ich bin. Niemand kennt mich.«
    Tony versuchte die Angst nicht zu zeigen, die in ihm aufstieg. Plötzlich begriff er, dass er unbedingt am Leben bleiben wollte, egal was er gedacht hatte, als er auf dem Kai stand. »Ich kenne Sie, Willi. Ich weiß, dass Ihre Motive uneigennützig waren«, sagte er, spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte, und wusste, dass seine einzige Chance war, weiterzusprechen. »Sie haben gesehen, was nötig war, und Sie haben es getan. Aber jetzt haben Sie genug getan, um Ihre Botschaft zu vermitteln. Lassen Sie mich für Sie sprechen. Lassen Sie mich alles erklären.«
    Mann schüttelte heftig den Kopf. »Sie werden mir mein Schiff nehmen. Ich würde mich lieber wie einen Hund abknallen lassen, als dass ich mir mein Schiff nehmen lasse.« Er machte unvermittelt einen Sprung auf Tony zu. In seiner Hast, zu entkommen, kippte Tony mit dem Stuhl nach hinten, stürzte krachend zu Boden und schrie vor Schmerz auf, als seine verwundete Schulter und die gebrochenen Rippen auf dem Deck aufschlugen. Er drückte sich gegen den Holzboden und wartete auf den Schlag, der nicht kam.
    Denn Mann interessierte sich nicht für Tony. Sein Ziel war die Schublade des Kartentisches gewesen. Er riss sie auf und fuhr mit der Hand hinein. Sie kam mit einem großen, unförmigen Revolver wieder heraus. Er betrachtete ihn einen Moment verwundert und steckte sich dann den Lauf in den Mund. Tony sah machtlos und entsetzt zu, wie Manns Finger abdrückte. Aber statt einer lauten Explosion erfolgte nur ein trockenes, metallisches Klicken.
    Mann zog die Waffe aus seinem Mund und starrte sie verdutzt an. Im selben Moment stürzte Marijke mit ihrer Walther P5 in den Händen durch die Tür des Steuerhauses. Sie erfasste sofort die Situation, die sie vor sich sah: Tony hilflos auf dem Boden, während Mann eine Schusswaffe schwang. Im Bruchteil einer Sekunde traf sie ihre Entscheidung.
    Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute drückte ein Finger auf den Abzug.
    Dieses Mal spritzten Knochensplitter, Gehirnmasse und Blut durch das tadellos saubere Steuerhaus der
Wilhelmina Rosen
.
    Es war vorbei.

Epilog
    E s war nicht so, dass es nichts zu sagen gegeben hätte. Eher zu viel – und keiner von beiden wusste, wo anfangen. Oder auch nur, ob es überhaupt eine gute Idee war, zu beginnen.
    Der Ort, an dem sie sich endlich trafen, war so neutral wie möglich. Sie saßen sich in einem Café des internationalen Warteraums im Flughafen Schiphol gegenüber. Es war nicht nur geographisch ein Niemandsland, es war auch ein Treffen, das zeitlich begrenzt war, da sie beide auf einen Flug warteten.
    Eine Weile saßen sie schweigend da, was leichter war, als zu sprechen. Carols Nase würde nie wieder so aussehen wie vorher, aber man hatte im Krankenhaus in Berlin gute Arbeit geleistet, sie wieder in die richtige Position zu bringen. Die blauen Flecken waren fast weg, nur das Gewebe um die Augen herum war noch geschwollen, als hätte sie sich in den Schlaf geweint. Tonys Verletzungen würden längere Zeit zur Heilung brauchen. Seine gebrochenen Finger taten noch weh, und seine Rippen quälten ihn pausenlos. Aber das würde vorbeigehen.
    Beide hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um zu genesen. Aber beide befürchteten, dass das, was in ihrem Inneren kaputt war, sich nicht reparieren lassen würde.
    Schließlich brach Carol das Schweigen. »Weißt du noch, was Radecki am Ende sagte?«
    Tony nickte. »Dass er gewonnen hätte, weil du ihn nie wieder los würdest?«
    »Ja.« Sie rührte ihren Kaffee um. »Er hat sich geirrt, weißt du. Er ist nie in mich hineingelangt, verstehst du? Nur in meinen Körper. Und das zählt nicht. Eigentlich nicht. Er ist derjenige, der nie frei sein wird. Weil ich ihn im Innersten getroffen habe. Also hat er nicht gewonnen, Tony.«
    Tonys Lächeln war nur in seinen Augen zu sehen. »Ich bin froh. Wirst du bei der Polizei bleiben?«
    »Es ist das Einzige, was ich gut kann. Ich werde aber nicht mehr mit Morgan und seinen Leuten zusammenarbeiten. Es ist mir egal, was er denkt. Ich bin nicht wie er, und er wird mich auch nicht vom Gegenteil überzeugen können. Sie lassen mir etwas Zeit für die Entscheidung, wohin ich gehen und was ich tun will. Wie steht’s mit dir? Wirst du weiter im Verborgenen bleiben?«
    »Nein. Das kann ich nicht. Die letzten Wochen haben ja
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