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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom
Autoren: Val McDermid
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sondern ein Hafen, in dem gearbeitet wurde. Der einzige Vorteil für ihn bestand darin, dass es fast schon dunkel war. In etwa einer halben Stunde würde ihn niemand mehr hinter dem niedrigen Backsteingebäude bemerken, das landeinwärts am Ende des Kais stand. Er versuchte auszusehen, als erwarte er jemanden, ging auf und ab und sah auf seine Uhr.
    Zwanzig Minuten vergingen, die Nacht senkte sich um ihn herab und wurde nur von den grellen, runden Lichtflecken der Lampen auf den Kais und von dem gedämpfteren Lichtschein auf den Booten durchbrochen. Ganz auf seine Beobachtung konzentriert, bemerkte er Marijke erst, als sie schon neben ihm stand. »Ich habe mit dem Team gesprochen. Sie werden in etwa zwanzig Minuten hier sein. Ist irgendwas passiert?«, fragte sie
    »Kein Lebenszeichen.«
    »Also warten wir, bis meine Leute hier sind.«
    »Wir müssen sowieso warten. Ich muss ihn alleine erwischen.«
    »Okay, aber wir sollten bereit sein, wenn die anderen kommen.« Marijke hantierte mit der Funkausrüstung, steckte Tony den Kuli an die Jacketttasche und den Kopfhörer in ihr Ohr. »Geh die Mole entlang und rede mit mir«, sagte sie und stellte den winzigen Rekorder ein, der auch zu dem System gehörte.
    Genervt ging er los und zwang sich, die richtige Geschwindigkeit einzuhalten. Zu langsam würde nicht zu einem Touristen passen, und wenn er zu schnell ging, würde er auch auffallen. In Gedanken war er schon weiter – bei dem Treffen mit Mann –, und er versuchte ruhig zu bleiben, indem er sich auf seine Umgebung konzentrierte. Die Abendluft war beißend kalt und klar und neutralisierte so die schweren Dieselabgase und Essensgerüche, die hier und da von den am Kai festgemachten Schiffen kamen. Aber Tony war es heiß und sein Hemd klebte so unangenehm an ihm wie ein Taucheranzug an Land.
    Er war die Hälfte der Molen abgegangen, als zwei Gestalten am Steuerhaus der
Wilhelmina Rosen
erschienen. »Oh Scheiße«, sagte er leise. »Marijke, da tut sich was. Zwei Männer, ich kann nicht sehen, ob einer von ihnen Mann ist.« Sein Herz klopfte wild, er ging weiter, während die beiden die Gangway herunter- und auf ihn zukamen. Als sie sich näherten, sah er, dass keiner der beiden seine Zielperson war. Sie gingen an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines neugierigen Blickes zu würdigen, und Tony murmelte: »Negativ. Ich glaube, er ist jetzt allein an Bord. Ich drehe um. Wenn du mich hören kannst, tritt ins Licht vor und winke mir zu.« Er wandte sein Gesicht in die Richtung, aus der er gekommen war, und sah Marijke in einen Lichtkegel treten. Sie hob eine Hand und ließ sie dann fallen.
    Das Vernünftigste wäre, zu ihr zurückzugehen und zu warten, bis das Unterstützungsteam an Ort und Stelle war. Aber dann konnte Mann auch schon das Schiff verlassen haben. Oder seine Mitarbeiter konnten wieder zurückkommen. Und Tony hatte keine Lust, sich durch vernünftige Überlegungen von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.
    Er kam von dem Gefühl nicht los, er müsse am rechten Ort sein, wenn sich ihm die entscheidende Gelegenheit bieten würde. Er begriff, wie gefährlich es war, aber der Gedanke ans Weiterleben war ihm nicht mehr wichtig, so dass der Ausgang für ihn keine Rolle spielte. Seine Schuldgefühle wegen Carol plagten ihn ständig und würden mit der Zeit immer schlimmer werden. Er war sich nicht sicher, dass dies etwas war, womit er leben konnte. Wenn hier alles zu Ende ging, dann sollte es eben so sein.
    »Es tut mir Leid, Marijke, ich kann nicht warten. Ich gehe aufs Schiff und mache das Beste draus.« Tony schloss einen Augenblick die Augen und atmete tief durch. Sein Körper war so angespannt wie die Fesseln, die Krasic ihm angelegt hatte. Es brachte jetzt nichts, Angst zu haben. Er brauchte all seine Konzentration für Mann.
    Er betrat die Gangway der
Wilhelmina Rosen
und rief dann: »Hallo? Darf ich an Bord kommen?« Er wusste, dass es Höflichkeitsregeln gab, wenn man sich einem Schiff näherte, das ja auch ein Zuhause war, und er wollte Mann nicht zu früh alarmieren.
    Keine Antwort, obwohl im Steuerhaus und in der Kajüte darunter Licht zu sehen war. Er ging weiter aufs Deck zu und rief noch einmal. Diesmal erschien ein Kopf an der Tür des Steuerhauses. Es war der junge Mann mit dem Pferdeschwanz, den er schon in Koblenz gesehen hatte und der das Gesicht verzog, als versuche er, die Gestalt zu erkennen, die sich gegen die Lichter auf dem Kai abhob. Tony sagte auf Deutsch: »Kann ich an Bord kommen?«
    »Wer
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