Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0057 - Der Höllenschlund

0057 - Der Höllenschlund

Titel: 0057 - Der Höllenschlund
Autoren: Michael Hrdinka
Vom Netzwerk:
Der Alte war in tiefer Trance.
    »Ethel, Ethel, hörst du mich? Gib mir ein Zeichen, dass du da bist!«, brüllte er plötzlich wie von Sinnen.
    Ein Zucken durchlief den mageren Körper. Der Mann wurde von einem gewaltigen Schüttelfrost gepackt.
    »Charles?«, stöhnte er dann gequält auf. »Wo bist du, mein Sohn?«
    Jäh begann es im Haus zu rumoren.
    Wie von unsichtbaren Händen wurden Möbel verrückt, Bilder stürzten von den Wänden, Geschirr zersprang.
    Doch von all dem schien der Greis nichts zu bemerken.
    »Ethel, Charles!«, raunte er nun ganz leise.
    Seine Finger hielten einen dicken Filzstift fest umklammert, während er mit den spindeldürren Fingerkuppen seiner anderen Hand ein faltiges, unbeschriebenes Blatt Papier festhielt.
    »Ethel, gib mir eine Botschaft! Ethel, ich beschwöre dich!«
    Er presste mit aller Kraft den Filzstift auf den Papierbogen.
    Plötzlich war es ihm, als ob seine Hand von einer eiskalten Klaue umklammert würde und sie stockend über das Papier zog. Der Filzstift hielt in knallroten Lettern die Botschaft aus dem Jenseits fest: Grab mich aus!
    Der Alte fiel in eine tiefe Ohnmacht.
    Rasch senkte sich die Dämmerung über die bewaldeten Hügel in das kleine Tal, in dem das Städtchen Wilbury lag. Ein stürmischer Spätherbsttag neigte sich seinem Ende entgegen, tauchte die Hügelkuppen der Schottischen Highlands in zwielichtiges Dämmerlicht, das nach und nach dem gespenstischen Dunkel der aufkommenden Nacht wich.
    Ringsum, hoch oben auf den Bergen, hoben sich noch einige Zeit lang die bizarren Umrisse einiger Burgruinen gegen den Himmel ab, ehe sie mit dem Dunkel der Nacht verschmolzen, oder durch wallende, feuchte Nebelschwaden verdeckt wurden.
    Der stürmische Herbstwind riss wild das letzte Laub von den knorrigen Bäumen, dröhnte und orgelte in den Ästen. Ein rauer Winter kündigte sich an.
    Als Jonathan Barrow sein Häuschen, das am Ortsende von Wilbury lag, verließ, begann es gerade zu regnen. Er versperrte sorgfältig das dicke Holztor des von wilden Weinranken umsponnenen Hauses, das mehr Ähnlichkeit mit einer Baracke als mit einer menschlichen Behausung hatte.
    Jonathan Barrow war Mitte sechzig. Ein von Gram und Schmerz gebeugter Mann mit struppigen weißen Haaren und einem verfilzten Bart. Er machte einen unsauberen, verwahrlosten Eindruck. In seine dunklen Augen trat ein fanatischer Glanz, als er den krummen Spaten, den er in der Hand hielt, fester packte.
    Niemand war mehr weit und breit auf den engen, schwach beleuchteten Gassen zu entdecken.
    Barrow stellte den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem beginnenden Regen zu schützen. Er fluchte noch einige Zeit lang über das Wetter, denn das kalte feuchte Klima bereitete ihm in seinen alten Tagen schon so manche Schwierigkeiten.
    Hastig marschierte er in Richtung Friedhof, der etwa fünfhundert Yards außerhalb der Ortschaft lag. Der Weg führte steil bergan. Jonathan Barrow musste eine kleine Verschnaufpause einlegen.
    In seinem Gehirn raste ein Orkan von Gedanken, überschlug sich.
    Der Alte war nicht in der Lage, jetzt noch klar und sachlich zu überlegen.
    Er war seinem Ziel, dem er seit über einem Jahr lang nachstrebte, zum Greifen nahe.
    Ja, er hatte es beinahe geschafft!
    Barrow lebte nur noch, um das zu verwirklichen, wovon er seit dem Tod seiner Frau und seines Sohnes träumte.
    Er wischte sich mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß von der faltendurchfurchten Stirn. Aufgeregt stapfte er weiter durch das knöcheltiefe, abgefallene Laub, das hier den Pfad bedeckte.
    Während er sich beeilte, den kleinen Bergfriedhof zu erreichen, dachte er nochmals über all das nach, was ihn zu dieser Verzweiflungstat, die er nun begehen wollte, getrieben hatte.
    Er dachte an die Zeit zurück, in der er noch als Professor für Philosophie an der Londoner Universität tätig war. Welch ein unbeschwertes, glückliches Leben hatte er damals mit seiner Familie geführt?
    Ein leichtes Lächeln erhellte das runzelige Gesicht des alten Mannes.
    Plötzlich verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, schien zu einer Maske zu erstarren.
    Wieder, wie schon so oft während der letzten Jahre, drängte sich der furchtbare Augenblick in sein Gehirn, als eines Tages ein Bobby vor der Haustür gestanden hatte, um ihm mitzuteilen, dass sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Er war mit seinem Sportwagen von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Alleebaum geknallt!
    Jonathan Barrow stöhnte. Im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher