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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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schon da war, bevor ich darüber nachgedacht habe, und das sich streckt und streckt und die Sterne und Ewigkeit umfasst und wahrscheinlich selbst nicht weiß, warum oder wie. Ich möchte herausfinden, wie ich diesen Gott befreien, ihn wie einen Drachen ins Unendliche fliegen lassen kann, weit über Glaubensbekenntnisse und fromme Floskeln hinaus, wie ich ihn mit allem anderen verbinden kann … den anderen Strömungen, die uns an einem Tag wie diesem zu umkreisen scheinen, sodass man selbst hinaufgezogen und über Zeit und Raum, über Gut und Böse hinausgetragen wird, dorthin, wo die ganze verdammte Geschichte überkocht. Ach, hol’s der Teufel, ich weiß auch nicht!», stöhnte er und warf verzweifelt den Kopf zurück.
    Mrs Scrimser lauschte strahlend, die Arme wie segnend ausgestreckt.« O Vanny, wenn du so sprichst, spüre ich deutlich deine Berufung! Diese Gabe zum Reden hast du sicher von deinem Großvater geerbt. Du könntest auf der Stelle die Alsop-Avenue-Kirche bis auf den letzten Platz unter der Empore füllen. ‹Der predigende Jüngling› … So einer dringt oft bis tief in die Seelen, wo ein Älterer kein Gehör mehr findet. Meinst du nicht, Liebes, dass du dich bei einer solchen Begabung geradewegs für Jesus entscheiden solltest?»Sie hob die gefalteten Hände mit einer Nunc-dimittis-Geste 11 geläuterter Frömmigkeit.«Wenn ich dich nur einmal auf der Kanzel hören könnte, würde ich in Frieden entschlafen», murmelte sie.
    Vance’ Traum fiel krachend auf den Boden der Veranda und blieb dort liegen wie ein zersplitterter Regenbogen. Die Alsop-Avenue-Kirche! Die Kanzel! Ein geistliches Amt! Diese vertrauliche Art, über Jesus zu reden, als sei das einer, der um die Ecke in Mandels Laden auf einen Anruf warte – und diese Frau, die sich seit vierzig Jahren das hohle Getöne und scheinheilige Geheuchel ihres Mannes anhören musste und immer noch an die Macht der biblischen Worte und magischen Zeichen glaubte! Wenn Vance ihr zuhörte, wurde ihm die Bibel fast zuwider, obwohl ihre eindringlichen Worte und Rhythmen zu seinen kostbarsten geistigen Schätzen zählten … Warum hatte er sich nur wieder gehen lassen und versucht, sie mit sich in die schwindelnden Höhen philosophischer Betrachtungen zu erheben – als würde sich ein winziges geflügeltes Insekt abmühen, den Rasenmäher da vorne auf dem Weg hochzustemmen! Vance blickte verdrossen in die weitläufige, verwahrloste Ferne, von der sie allen Zauber gefegt hatte, sodass er dort, wo er Blumen erblickt und Vögel gehört hatte, jetzt nur noch einen verkümmerten Horizont sah, gefangen hinter krummen Telegrafenstangen und zum Teil verdeckt von Mandels Laden.
    « Vance – ich habe dich doch nicht beleidigt?», fragte seine Großmutter und legte ihre große Hand auf die seine.
    Er schüttelte den Kopf.«Nein. Du verstehst nur nicht.»
    Sie nahm ihre angelaufene Brille ab und wischte darüber.« Vermutlich hat Gott die Frauen erschaffen, damit die Männer jemanden haben, zu dem sie das sagen können», bemerkte sie mit einem abgeklärten Lächeln.
    Ihr Enkel lächelte ebenfalls. Er wusste ihren Humor durchaus zu schätzen; aber heute bebte er innerlich von dem vergeblichen Versuch, sich auszudrücken, und weil sie ihn missverstanden hatte, und so antwortete er nicht.
    « Dann werd ich mal wieder gehen», sagte er und stand auf.
    Mrs Scrimser stritt nie mit ihrer Familie, und so spazierte sie schweigend mit ihm den Pfad hinunter und blieb vor dem Rasenmäher stehen, der ihnen den Weg versperrte. Von hier aus konnten sie über mehrere unbebaute Grundstücke sehen und seitlich an Mandels Laden vorbei die Augen im flüssigen Gold des Sonnenuntergangs jenseits des Flusses baden.
    « An Sommerabenden hab ich immer gedacht, dort ist der Himmel», brach es aus dem Jungen heraus, und er zeigte auf die knospenden Ahornbäume am Fluss. In seinen Ohren klangen diese Worte hämisch, unvorstellbar gestrig und verbittert, doch in der Seele seiner Großmutter rief die Erwähnung des Himmels niemals solche Gefühle wach.
    « Ich glaube, der Himmel ist überall da, wo wir die Natur und unsere Mitgeschöpfe genug lieben», sagte sie und legte ihm den Arm um die Schulter. Keinem von beiden kam es in den Sinn, den Rasenmäher beiseitezuschieben, und sie verabschiedeten sich, das Gerät vor sich, zwanglos, aber liebevoll, wie es in den Familien in Euphoria üblich war. Vance überstieg das Hindernis mit einem großen Schritt, und seine Großmutter blieb davor stehen
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