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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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schien niemand bereit. Teils lag das an Großpapas Ischias, teils daran, dass der Lohngärtner so unregelmäßig kam und Großmama immer alle Hände voll damit zu tun hatte, die Vorgärten anderer Leute in Ordnung zu bringen, materiell wie moralisch.
    Als Vance die Veranda betrat, saß sie dort in ihrem Schaukelstuhl, das zerzauste Haar aus der breiten, gelblichen Stirn gestrichen, und ihre Brillengläser musterten wohlwollend die Gartenanlagen. Ein Rasenmäher stand quer auf dem Weg, und sie rief ihrem Enkel zu:«Heute hätte eigentlich der Gärtner kommen müssen, aber er ist zu einer großen Zeltmission nach Swedenville gegangen, deshalb hat Großvater angefangen zu mähen, damit alles hübsch aussieht, wenn deine Eltern uns am Sonntag besuchen; doch dann ist ihm eingefallen, dass er in Mandels Laden eine Verabredung hat, ich weiß also nicht, wie das fertig werden soll.»
    « Na ja, vielleicht kann ja ich mähen, wenn ich mich ein bisschen abgekühlt habe», sagte Vance und setzte sich.
    Sie alle kannten Großpapas Verabredungen. Kaum hatte man ihn gebeten, in Haus oder Garten Hand anzulegen, bekam er Ischiasschmerzen, oder es fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, sich in Mandels Gemischtwarenladen oder im«Elkington»-Hotel in Euphoria mit jemandem zu treffen.
    Mrs Scrimser richtete ihre ausdrucksvollen grauen Augen auf ihren Enkel.«Hast du an einem solchen Tag nicht auch das Gefühl, als könntest du durch dieses Blau da oben direkt zu Gott gelangen?», fragte sie und wies mit einer großen, knotigen Hand himmelwärts. Den herrenlosen Rasenmäher und ihr Bedürfnis aufzuräumen hatte sie schon vergessen. Immer wenn sie ihren Enkel sah, erwachte all das Suchen und Sehnen in ihrem unzufriedenen Innern und brach sich in bangen Worten Bahn. Aber Vance wollte nichts von ihrem Gott hören. Der war, ohne den Deckmantel von Mrs Scrimsers biblischem Wortschwall, doch nur der oberste Tugendrichter einer berühmten pädagogischen Anstalt, in der sie eine wichtige Stelle innehatte.
    « Nein, ich habe nicht das Gefühl, als würde mich etwas nahe zu Gott führen. Und ich will auch gar nicht in seine Nähe, ich will mich von ihm freimachen, will dorthin, wo er nur noch wie ein Pünktchen aussieht und der Gott in mir ihn gewissermaßen umgehen kann.»
    Mrs Scrimser glühte vor Entgegenkommen, alles Kühne entzückte sie.«Oh, ich verstehe, was du meinst, Vanny», rief sie. Ihr Leben lang war sie immer überzeugt gewesen, dass sie erfasste, was die anderen meinten, und diese Überzeugung hatte sie siegestrunken von einem Gipfel der Leichtgläubigkeit zum nächsten getragen.
    Doch ihr Enkel zerlächelte ihre Begeisterung.«Nein, du verstehst nicht, meinen Gott verstehst du überhaupt nicht, ich meine, den Gott in mir.»
    Seine Großmutter errötete vor Enttäuschung.«Warum nicht, Vanny? Ich weiß genau Bescheid über die Immanenz Gottes», widersprach sie fast ärgerlich.
    Vance schüttelte den Kopf. Es machte keinen großen Spaß, mit der Großmutter über Gott zu diskutieren, aber das war immer noch besser als die ständigen Reden seiner Mutter über neue Staubsauger, von Mr Weston über Immobilien oder von seiner Schwester Pearl über die neuen Regelungen für Schulnoten. Vance hatte Respekt vor Tüchtigkeit und bewunderte sie sogar; aber in letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass sie für die Verköstigung der Seele einen zu geringen Nährwert besaß. Er wunderte sich, dass Mrs Weston, eine Autorität in Ernährungsfragen, nie auf den Gedanken gekommen war, ihrer aller Leben in Mapledale einer Art von moralischem Vitamintest zu unterziehen. Ihm war, als würden sie hier alle verhungern, ohne es zu merken. Die alte Mrs Scrimser wusste wenigstens, dass sie Hunger hatte, und um einiges nachsichtiger wanderten seine Gedanken zu dem zurück, was sie gesagt hatte.
    « Das Problem ist», begann er und tastete suchend seinen begrenzten Wortschatz ab,«dass ich den Gott anderer Leute offenbar nicht haben will. Ich möchte nur dem meinen freien Lauf lassen.»In diesem Augenblick vergaß er die Anwesenheit seiner Großmutter und seine früheren Erfahrungen mit ihrer Begriffsstutzigkeit und spann seinen Traum für sich selbst aus.«Ich will nicht einmal wissen, was er ist – nicht, indem ich ihm denkend auf den Grund gehe. Die Menschen mussten auch nichts über Sauerstoff und das Funktionieren der Lungen lernen, bevor sie zu atmen begannen, oder? Und so geht es mir mit dem, was ich meinen Gott nenne – dieses Etwas in mir, das
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