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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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der Straßenbahn hergerannt – das war schon komisch. Etwas Verwegenes und gleichzeitig Verstohlenes an seinem Benehmen rief Vance eine Begebenheit in Erinnerung: Er war noch ein kleiner Junge und hatte mit seiner Mutter Weihnachtseinkäufe erledigt, als sie plötzlich Großvater erblickten, der sich genau auf diese Weise die Stirn wischte und aus einer Straße auf sie zugelaufen kam, in der Vance und seine Schulkameraden nicht spielen durften. Der kleine Junge witterte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn seine Mutter rief nicht etwa:«Da ist ja Großvater!», sondern erinnerte sich plötzlich, dass sie – meine Güte! – noch gar nicht die Hefe in Sprouls Bäckerei bestellt hatte, und riss Vance herum, scheinbar ohne Mr Scrimser bemerkt zu haben. Solche Ausflüchte sind Meilensteine auf dem Weg zur Erkenntnis.
    Vance schmunzelte spöttisch in Erinnerung an diesen Vorfall und bei dem Gedanken, wie weit seine arglose Kindheit hinter ihm lag. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, seinem Großvater zuzuwinken, dann bewog ihn etwas an der Haltung und den Bewegungen des alten Mannes, sich abzuwenden.«Es wird wohl Zeit, die Hefe bei Sprouls zu holen», sagte er sich lachend; doch als er den Blick abwandte, wurde seine Aufmerksamkeit von einer anderen sich nähernden Gestalt gefesselt. Das Licht wurde rasch schwächer, und Vance stand gut hundert Yard 13 vom Fluss entfernt, doch noch in der tiefsten Dämmerung und auf weit größere Entfernung hätte er die raschen Bewegungen und die zarte Silhouette des Mädchens erkannt, das da durch die Bäume auf Mr Scrimser zuschlüpfte …«Aber sie ist nicht hier … sie ist nicht hier … das weiß ich doch!», wütete es in dem Jungen in einem Anfall sinnlosen Leugnens. Wie angewurzelt stand er da, während die Erinnerung an alles, was sie ihm jemals gewesen war, jeder Blick und jeder Ton, jeder Duft und Atemzug und jede Berührung, die ihn an sie gebunden und beide hatte eins werden lassen, siedend heiß in ihm hochstieg. Er hatte sich nie vorstellen können, wie sich qualvolle körperliche Schmerzen anfühlen, was einer spürt, der von einem Zug zermalmt oder von einer rotierenden Maschine in einer Fabrik zerrissen wird, aber er wusste – er entdeckte es im gleißenden, blendenden Licht dieses Augenblicks –, dass die Seele, wenn sie tief genug getroffen ist, mit dem Körper scheinbar eins wird und wie dieser in jedem Nerv und jedem Muskel einen eigenen deutlichen Schmerz empfindet. Er sah – oder glaubte zu sehen –, wie die beiden Gestalten in der Dunkelheit zusammentrafen, genau da, wo er Floss Delaney so oft in seine Arme geschlossen hatte; danach stolperte er blind davon. Eine Straßenbahn kam angeschwankt und nahm Kurs auf die Lichter von Euphoria. Er winkte, sie solle halten, und stieg ein.

3
    Die Familie saß beim Abendessen. Das Esszimmer war blitzsauber. Das litauische Hausmädchen schob die heißen Gerichte durch die Durchreiche und stellte sie lautlos auf den Tisch. Großpapa sagte immer, seine jüngere Tochter könne noch einem Eskimo das Servieren beibringen. Die Gesichter unter der Hängelampe spiegelten Behagen und Zufriedenheit. Pearl hatte gerade einen Gehaltsvorschuss bekommen, und Mr Weston hatte ein altes Geschäftshaus zu einem selbst für ihn unverhofft hohen Preis verkauft.
    « Ich glaube, wir machen diesmal den Urlaub an den Großen Seen, von dem die Mädchen dauernd reden», sagte er und blickte beifallheischend in die Tischrunde.
    Doch Mrs Weston verzog den Mund (sie runzelte den Mund wie andere Leute die Stirn) und fragte, ob sie dieses Jahr die Seen nicht lieber sein lassen und das neue elektrische Kühlraumgerät einbauen sollten, dessentwegen vorgestern der Vertreter hier gewesen sei und ausgemessen habe? Sie bekämen es deutlich reduziert, wenn sie jetzt bestellten und ein Drittel der Summe anzahlten, sobald er wiederkäme.
    Pearl, die ältere Tochter, klein, lebhaft und mit einem Mund wie ihre Mutter, antwortete, ihr sei es egal, sie würde nur bald wissen wollen, wozu man sich entschieden habe, denn wenn sie nicht zu den Seen führen, würde sie mit einer Freundin von der School of Hope in Sebaska gern zelten gehen. Mae, die Jüngere der beiden, die größer und weniger rundlich war und einmal hübsch zu werden versprach, murmelte, die Familien der anderen Mädchen führen im August alle zu den Seen, warum nicht auch ihre Familie, ohne das ganze Theater.
    « Also Theater haben wir mit dir und Vance schon genug», erwiderte
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