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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River
Autoren: Edith Wharton
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nur schlechter.
    Zu Vance drang von alledem nur ein wirres Echo durch den Nebel jener verschwommenen Wochen – Wochen, in denen sich sein Leib unaufhörlich in Krämpfen wand und sein Geist unaufhörlich haltsuchend um sich tastete. Die Ärzte sagten, wenn es sich nicht um Mrs Weston handelte, hätten sie ihn sofort in die Infektionsstation des Krankenhauses eingeliefert, aber Mrs Weston erledige sicher alles genauso gewissenhaft wie das Krankenhaus, sie werde aufs Desinfizieren achten, die Fieberkurve exakt aufzeichnen und niemandem erlauben, ihn zu stören … Also verlegten sie ihn in das grabesdüstere Gästezimmer, Mrs Westons ganzer Stolz, weil niemand es jemals bewohnt hatte und auch niemals bewohnen würde und weil es jenes ehrfurchtgebietende Allerheiligste ihrer Jugend ersetzte, die nie benutzte« gute Stube».
    Es dauerte einen Monat, bis Vance so gekräftigt war, dass man ihn wieder in sein eigenes Zimmer legen konnte. Es kam ihm fremd vor. Seit einigen Tagen hatte er«Normaltemperatur», und heute Morgen hatten die Ärzte zu Mrs Weston gesagt, sie dürfe die Fieberkarte vom Fußende des Bettes abnehmen und Vance ein wenig Hähnchenfleisch geben. Er aß es hungrig, dann legte er sich mit der unsagbaren Erschöpfung des Genesenden wieder hin.
    Allmählich durfte die Familie ihn besuchen. Als Erster kam sein Vater, unbeholfen und um Worte verlegen in seiner heiligen Scheu vor dem Unheil, dem sie mit knapper Not entronnen waren; dann Pearl, kurz und taktvoll, und Mae, wie immer mit sich selbst beschäftigt, sodass die Mutter sie fortziehen musste, weil sie zu lange blieb und zu viel redete. Großmama lag mit Rheumatismus im Bett, schickte aber frische Eier und ließ ausrichten, sie stehe in ständiger Verbindung mit einem ihrer Hauspropheten, der in der Nachbarstadt Swedenborg einen Wohltätigkeitszirkel leite, und seine Jünger schlössen Vance täglich in ihre Gebete ein.
    Vance lauschte diesen Worten, als sei er schon tot und das Familiengeplapper dringe durch den Erdhügel auf dem Friedhof von Cedarcrest zu ihm durch. Er hatte nicht gewusst, dass das Gehirn nach der körperlichen Genesung noch so lange in dem luftlosen Raum zwischen Leben und Tod verharrt.
    Er döste vor sich hin, als sich die Tür öffnete und er die dröhnende Stimme seines Großvaters hörte:«So, alter Junge, mittlerweile hast du sicher genug von den betenden Frauen an deinem Bett, oder? Es wird dich ein bisschen aufmuntern, wenn du mit einem gleichaltrigen Mann ein paar Geschichten austauschen kannst.»
    Da stand er im Zimmer, ganz nah am Bett, kraftvoll, drohend, die schwarz-weiße Mähne verwegen aus der dunklen Stirn geworfen, die weißen Zähne durch den widerspenstigen Vorhang des gefärbten Schnurrbarts blitzend, und roch am ganzen Leib nach Tabak und Eau de Cologne, selbst aus den Falten seiner schief sitzenden Kleidung, von der Spitze des Einstecktuchs in der Brusttasche und an den langen dunklen Händen, die der Junge plötzlich über sich ausgebreitet sah, als sich Mr Scrimser väterlich über das Bett beugte.
    « O Großvater, nein – ich sage Nein !»Vance stützte sich auf die Kissen, am ganzen schwachen Körper brach ihm der Schweiß aus, und er hob abwehrend die Arme.«Nein, nein! Geh weg – geh weg !», wiederholte er, kläglich weinend wie ein Kind, und bedeckte die Augen mit den Händen.
    Er hörte, wie Mr Scrimser zurückfuhr und bestürzt etwas stammelte. Gleich würden Mrs Weston oder die Mädchen gerufen, und dann wäre er wieder unter Fieberkurven, Thermometern und Eiskompressen begraben. Er ließ die Hände sinken, setzte sich auf und sah seinen Großvater, der seinem Blick auswich, unverwandt an.
    « Du – du verdammter alter Wüstling, du!», sagte er mit leiser, aber vollkommen fester Stimme. Mr Scrimser starrte ihn an, und er starrte zurück. Ganz langsam senkte der Großvater den scheckigen Schopf und trat seinen Rückzug durch das enge, kleine Zimmer Richtung Tür an.
    « Du bist – du bist noch immer krank, Vanny. Natürlich bleibe ich nicht, wenn du es nicht möchtest», stotterte er. Als er sich umwandte, dachte Vance:«Er weiß Bescheid; er wird mich nicht mehr belästigen.»Sein Kopf fiel auf die Kissen zurück.
    Ein paar Tage lang ging es ihm weniger gut. Der Arzt sagte, er habe zu viel Besuch gehabt, und Mrs Weston verschaffte ihren Nerven Erleichterung, indem sie ihrem Mann und Mae eine Standpauke wegen ihrer Gedankenlosigkeit hielt; sie hätten den Jungen erschöpft. Niemandem kam es in
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