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Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)

Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)

Titel: Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
Autoren: Uwe Klausner
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Haustür
ins Schloss fallen, bog nach rechts, warf der Verkäuferin des Textilgeschäftes im
Parterre eine Kusshand zu und begab sich auf den Weg in die Redaktion. Der Himmel
war wolkenverhangen, die Tauentzienstraße kaum bevölkert und die Stimmung, welche
das morgendliche Panorama vermittelte, überaus trist. Ein Grund mehr für Morell,
einen weiteren Schluck aus seinem Flakon zu sich zu nehmen, in aller Ruhe die Schaufenster
zu begutachten und mit einem Bekannten, der ihm zufällig über den Weg lief, ein
paar Worte zu wechseln. Erst dann, deutlich später als sonst, setzte er seinen Weg
fort, überquerte die Nürnberger Straße und strebte der Gedächtniskirche zu.
    Wie immer
musste er dabei an jene Nacht im November 1943 denken, in der er dem Tod nur knapp
entronnen war. Am Tag nach Totensonntag war über Charlottenburg, und nicht nur dort,
die Hölle hereingebrochen. Knapp 700 britische Flugzeuge vom Typ Halifax und Lancaster
hatten ihre tödliche Fracht abgeworfen und zwischen Messegelände und Alexanderplatz
eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Damals wie heute war der Himmel bewölkt
gewesen, dann aber, im denkbar ungünstigsten Moment, über dem Zielgebiet aufgerissen.
2.500 Tonnen Bomben waren herabgeregnet, über die Hälfte davon Brandbomben, die
das Versteck, in dem Theodor Zuflucht gesucht hatte, nur um Haaresbreite verfehlten.
An allen Ecken und Enden hatte es gebrannt, am schlimmsten im Zooviertel, und, schlimmer
noch, in unmittelbarer Nähe der Gedächtniskirche. Die Kirche selbst wurde schwer
beschädigt, das Dach und zwei der vier Türme, welche den Hauptturm flankierten,
waren eingestürzt. Auf diesen Anblick war Morell, als er sich einen Tag später ins
Freie gewagt hatte, nicht gefasst gewesen. Nie würde er diesen Moment vergessen,
und obwohl dies fast zwei Jahrzehnte her war, empfand der 52-Jährige einen Stich
im Herzen.
    Doch wäre
er nicht der gewesen, für den er sich hielt, wenn sein Gemütszustand von Dauer gewesen
wäre. Getreu der Devise, man müsse stets nach vorn blicken, setzte er seinen Weg
fort, überflog die Schaukästen vor dem ›Gloria‹ [14] und fragte sich, was die Leute an Heimatschnulzen,
›Freddy und dem Lied der Südsee‹ sowie an Western mit John Wayne begeisterte. Darüber
nachzudenken erschien ihm indes die Mühe nicht wert, weshalb er sich eine Schachtel
Zigarillos kaufte und den Weg zu den am Kurfürstendamm gelegenen Redaktionsräumen
einschlug. Für die Werbeplakate, Reklametafeln und Transparente, an denen er vorüberflanierte,
hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. ›Mach mal Pause … trink Coca-Cola.‹ Nichts
lieber als das. ›Peter Stuyvesant: der Duft der großen weiten Welt.‹ Schön wär’s.
Morell stieß ein verächtliches Schnauben aus. Werbung, Werbung und abermals Werbung.
So weit das Auge reichte. Da durfte die Dame mit dem weißen Kleid nicht fehlen.
Reinwaschen, so schien es, war das Gebot der Stunde. Alles, was man dazu benötigte,
war der sprichwörtliche Persil-Schein, und schon stand der Karriere nichts mehr
im Weg. Egal, was und wie viel man sich im Dritten Reich geleistet hatte. Mit einem
Wort: zum Davonlaufen. Wer wie er über zwei Jahre im Untergrund verbracht hatte,
den widerte diese Form der Vergangenheitsbewältigung an. Ein Grund, weshalb er laufend
aneckte, zum Beispiel bei seinem Chefredakteur, der ihn lieber heute als morgen
losgeworden wäre.
    Und siehe
da: Als könne er es nicht abwarten, ihn zur Minna zu machen, wartete dieser bereits
auf ihn. Morell war ihm überlegen, sowohl fachlich als auch intellektuell, und so
ließ der Redaktionsleiter keine Gelegenheit aus, ihn herumzuschikanieren oder Aufträge
zu erteilen, die genauso gut von einem Volontär erledigt werden konnten. Seit dem
Tag, als Springer seine Meute auf Berlin losgelassen hatte, waren Leute wie er fehl
am Platz und zu Laufburschen degradiert worden. Berichte im Lokalteil, aber nur,
wenn sich niemand Besseres fand, Interviews mit Künstlern, die unter ›ferner liefen‹
rangierten, und vor allem Kontaktaufnahme zu Zeitgenossen, die ihren Mitmenschen
etwas anhängen wollten. Das war der Stoff, zu dem seine Träume verkommen waren.
    Der heutige
Tag, wie nicht anders zu erwarten, bildete da keine Ausnahme. Da ihm nicht danach
war, eine Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen, gab Morell seinem ironischen Impuls
nicht nach, ließ die Standpauke wegen Zuspätkommens über sich ergehen und ertappte
sich bei dem Gedanken, wie schön es doch wäre, jetzt im
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