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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
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Bewegung; Einigkeit, Vollendung, vielleicht sogar Liebe, vielleicht zum ersten und letzten Mal, darum kann ich dieses Niemehr nicht denken, ich bin mit Anne verlobt, ich werde sie heiraten, ich muß sie heiraten, ja, ja, ja, aber Marga auch! Auf jeden Gedanken, der das Niemehr aufrichten wollte in ihm, schlug er gewissermaßen mit Fäusten ein, zerbiß ihn, würgte ihn, spuckte ihn aus. Und betete, wie der heilige Augustinus gebetet hatte: »Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, nur gib sie nicht schon jetzt!« In zwei Hälften zerrissen, saß er auf seinem Bett. Keine Hand würde er mehr rühren können, kein Wort sagen und keinen Schritt tun, ohne dieses Zerren zu spüren, das ihn in zwei auseinanderfliehende Richtungen riß, so daß er kraftlos und mutlos auf der Stelle niederfiel, um den Wolken am Himmel oder den Winden die Entscheidung darüber, was mit ihm geschehen sollte, zu überlassen. Schlafen jetzt. Die Welt soll sich ohne mich weiterdrehen. Mit den letzten vierundzwanzig Stunden kann ich ganz zufrieden sein. Relow ist gar nicht so übel. Und Dieckow auch nicht. Und ob Relow ein guter oder ein nicht ganz so guter Programmdirektor ist, kann mir gleichgültig sein. Ein Funkprogramm bleibt ein Funkprogramm, egal, wer’s macht. Und Relow hatte ihn gestern fast zum Freund gemacht. Richtig vertraulich war er am Ende geworden. Hatte ihm erzählt, warum er sich noch nicht zum Intendanten machen lasse. Dazu sei er noch zu jung. Ein Intendant werde höchstens auf sechs Jahre gewählt. Wenn er dann mit sechsundvierzig Jahren nicht wiedergewählt würde, könnte er in keinem Funkhaus mehr arbeiten. Ein Mann, der einmal Intendant war, kann nicht mehr zurück. Also warte er lieber noch ein paar Jahre. So kluge Berechnung des eigenen Lebenslaufs imponierte Hans. Und Klaff wäre von einem anderen Programmdirektor genauso abgelehnt worden wie von Relow. Klaff war ja nicht einmal als Kritiker zu gebrauchen gewesen. Ich hab’s doch versucht. Nicht nur einmal. Der wollte ja nicht nachgeben. Nicht ein Komma gab der preis. Woher der bloß die Kraft hatte? Diesen Willen. Diesen viel zu starken Willen, mit dem er sich zum Schluß sogar hat umbringen können. Aber warum bloß? Stellungslos und ohne Frau war er ja schon im vergangenen Jahr gewesen. Jetzt fehlt bloß noch, daß ich schuld sein soll. Ich möchte wissen, wer sich um den je so gekümmert hat, wie ich es getan habe. Aber der ist imstande und gibt mir noch die Schuld. Vielleicht hat er was aufgeschrieben.
     Hans griff hastig nach dem Heft und blätterte, bis er die letzten Eintragungen Klaffs gefunden hatte. Dann las er mit vor Anstrengung schmerzenden Augen:

    Je jünger einer ist, desto schneller weiß er, wenn er am Morgen aufwacht, wo er sich befindet. Mit dem Alter steigt die Zahl der Möglichkeiten, und es kommt die ungeheure Möglichkeit dazu, daß er schon tot ist.
    Wenn die Männer der Basken tanzen, springen sie in die Höhe, kreuzen dreimal ihre Beine, ehe sie wieder die Erde berühren.

    Gleichgültigkeit oder Vertrauen. Mir fehlt beides. Darum sind alle Seiten, bevor ich sie noch beschreibe, schon durchgestrichen… Der bedeutende Widerhall in der leeren Stirnhöhle.

    Auf der Treppe nebenan sitzt Marias blinde Schwester. Ich klettere an mir empor. Wie ein Affe. Um größer zu sein, als ich bin. Von oben sehe ich nur, wie klein ich bin. Ich sollte mich nicht mit mir selbst beschäftigen. Der Wunsch, ein anderer zu sein, wird dadurch stärker.

    Vor Wochen ist Stalin gestorben. Ich saß, hielt den Atem an mit erhobenen Händen. Wie immer klirrte die hohe schneidende Saite.

    Ich hundertäugiges Tier liege um mich herum und beobachte die Ermordung aller meiner Wünsche. Selbstmorde vor allem. Was soll’s denn…

    Ich habe immer gedacht: das Leben beginnt später. Irgendwann einmal, stellte ich mir vor, werde ich aufspringen, werde nichts durch Zögern verderben, sondern hinausrennen und das Leben wie einen Hasen jagen. Mit großer Sicherheit und ganz unerbittlich werde ich seinen Zickzackkursen nachsetzen und ihn gegen Mittag erlegen. Dann werde ich ruhig und vielleicht immer noch enttäuscht (vielleicht jetzt sogar erst recht) in mein Zimmer zurückkehren. Aber es wird mir genügen, das Leben einmal in die Hände bekommen zu haben, einmal gesehen zu haben, daß es nicht mehr ist als ein struppiger, nicht ganz sauberer Hase, der keinen harten Winter mehr übersteht. Das war meine vorsichtige Hoffnung. Jetzt weiß ich, daß ich nicht einmal so viel in
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