Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
Volkmann im Vorzimmer des Chefredakteurs. Das war eine in Philippsburg beheimatete Studienkollegin. Sie hatte ihr Studium nicht beendet. Wahrscheinlich wohnte sie jetzt bei ihren Eltern. Er hätte sie sowieso früher oder später aufgesucht, um zu sehen, was aus ihr geworden war. Es war schon fast Mittag, und die Stadt hatte ihr Morgengesicht eingebüßt, als Beumann durch die Glasschleusen des Hochhauses hinaus auf die Straße trat, auf das Trottoir nur, denn die Straße war jetzt eine wahnsinnig gewordene Blechschlange, die mit gleißenden Gliedern vielhöckrig vorbeiraste, die heiße Luft hin und her zerteilte und sie den Passanten auf dem Trottoir ins Gesicht schlug. Der heiße Anhauch aus Asphalt, Gummi, Benzin und Staub fiel wie eine Plage über die Passanten her, die jetzt mit vorgesenkten Köpfen ihre Richtung hinflohen, um der glühenden Schlucht Hauptstraße so rasch wie möglich zu entkommen.
     Beumann wehrte sich bald nicht mehr gegen die verbrauchte Luft, er wehrte sich auch nicht mehr gegen die Berührung mit anderen Fußgängern, sein Hemd hatte er schon auf dem Weg zum Hochhaus durchgeschwitzt, seine Hände waren vollends klebrig geworden, seine Lungen hatten sich an die Luft, die es hier gab, gewöhnt; wahrscheinlich reichte die Luft an einem solchen Tag nur bis neun Uhr vormittags, dann müßte eigentlich die Nacht anfangen, der Verkehr aufhören, die Straßen müßten sich leeren, daß die Luft sich wieder erneuern könnte. Beumann dachte, als die Straßenbahnen an ihm vorbeikreischten, die die steife Rückenflosse des Blechungetüms Straße bildeten: am schlimmsten muß es in diesen glühenden Schachteln sein, die Leute beobachten einander beim Schwitzen und strecken noch ihre Hände zu den Halteringen hinauf, daß man, wohin man sich auch dreht, die Nase in eine weit aufgeklappte Achselhöhle streckt.
     Beumann bemerkte, daß er in eine Seitenstraße eingebogen war. Er hatte es also doch nicht länger ausgehalten. Die neue Straße führte aufwärts. Beumann setzte sich erst, als er ein Gartencafe erreicht hatte. Heiß war es auch hier. Die Gäste hingen auf den Stühlen herum wie Ballone, die einen Teil ihrer Gasfüllung eingebüßt haben. Die Kellnerinnen klebten an den Rinden der Kastanienbäume und atmeten rasch und hörbar. Ihre Augen lagen auf den unteren Lidern und starrten reglos in den Kies. Beumann wagte es lange Zeit nicht, um Bedienung zu bitten, weil er Angst hatte, daß dem Mädchen, das er anrufen würde, vielleicht die Augen gänzlich aus den Höhlen fallen würde, vielleicht versagten ihr dann auch die Knie endgültig den Dienst und sie rutschte am Kastanienstamm abwärts, auf der Rinde eine feuchte Spur hinterlassend, in den heißen Kies. Er war ja auch nicht gekommen, sich als Gast aufzuspielen; er hatte den Garten gesehen, die Kastanienbäume, die Stühle, da war er leise eingetreten und war auch kaum bemerkt worden. Da und dort hatte das Auge eines Gastes sich mit ihm bewegt, wie das Auge eines Fisches, der auf dem Sand liegt und schon keine Kraft mehr hat, sich klarzumachen, daß diese Lage kein gutes Ende haben kann. Dann hatte sich Beumann doch an eines der von der Hitze gekreuzigten Mädchen gewandt, sehr vorsichtig und gewissermaßen unabsichtlich. Das Mädchen löste sich vom Stamm, taumelte ein bißchen, er griff nach ihr und bewahrte sie vorm Sturz. Vorsichtig bohrte er jetzt einen Strohhalm durch die kleinen Eisballen, um den Kaffee durch sie hindurchsaugen zu können. Er war allmählich in der Lage, seine Erschöpfung zu genießen. Er spürte, daß so ein heißer Tag viele Schranken wegschmilzt. Es ist wie bei einer Katastrophe, dachte Beumann. Die Leute kommen sich näher, weil sie alle unter dem gleichen Geschehen leiden. Nun fehlen bei dieser Hitze glücklicherweise die traurigen Begleitumstände einer richtigen Katastrophe, die Einigkeit der Menschen untereinander aber nimmt doch zu. Er hatte das in den Augen der Kellnerin gesehen. Er hätte sie küssen können, sie hätte sich wahrscheinlich nicht gewehrt. Und die anderen Gäste hätten höchstens gelächelt. Waren nicht alle Kragen so weit geöffnet, daß die Kragenspitzen lasch auseinanderhingen wie die Flügel getöteter Möwen? Und wenn einer Frau die Bluse verrutschte, so griff sie nicht gleich danach, um die Ordnung wiederherzustellen.
     Beumann wollte diesen Tag nützen. Das war ein Tag, sich in Philippsburg seßhaft zu machen, ein Tag, der wie kein anderer geeignet schien, Gesellschaft zu bekommen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher