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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
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Aber es schien nur so. Niemand bat um seine Hilfe. So sehr er die Leute anschaute, keiner bot ihm an, »du« zu sagen, keiner lobte den Schatten, den man gemeinsam genoß; Beumann blieb allein trotz der Hitze, die die ganze Stadt in ihren Zähnen hielt. Die Abstände wurden nicht kleiner. Wen hätte er auch erreichen sollen? Seine Vorstellungen von einer besseren Ordnung waren zu sehr auf ein paar seiner persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten, für deren Befriedigung er selbst wenig tun konnte. Ihm zuliebe gewissermaßen hätte sich die ganze Welt ändern sollen. Was er der Welt zuliebe tun konnte, wußte er noch nicht. Ein heißer Tag eben. Hirnblasen, nichts weiter. Eine der Temperatur besonders angepaßte Traurigkeit. Wäre es klirrend kalt, so würde er vielleicht die Menschheit in eine öffentliche Tanzgesellschaft verwandeln wollen oder ein Kleidungsstück fordern, in dem mehrere Menschen gleichzeitig Platz und Bewegungsmöglichkeit hätten. Iß dein Eis, Hans Beumann, und such’ dir ein Zimmer, in dem du bleiben kannst. Denn hier bleiben würde er vorerst. Schließlich gab es immer mehr Gründe, irgendwo zu bleiben als von irgendwo fortzugehen.

    Er fand ein Zimmer in der Oststadt, in einer kurzen, stumpfen Querstraße, die nur auf einer Seite bebaut war. Das Zimmer war ein schmaler Schlauch. Die Straße war mit einer einzigen, inzwischen schwarzrot gewordenen Backsteinzeile besetzt, so daß man die Häuser nur nach den Nummern voneinander unterscheiden konnte, die über die meterbreiten Vorgärten hinweg über den engen Türen deutlich zu lesen waren. Die Nummernschilder fielen in dieser Straße mehr auf als irgendwo anders, weil die Haustüren so dicht aufeinanderfolgten; aber wahrscheinlich wußten nur die, denen die Häuser gehörten, wo das eine aufhörte und das nächste anfing. Frau Färber seine Hausfrau, war stolz auf den düsteren Schlauch, in den sie ihn führte, weil alles so sauber war, wenn auch dunkel und kahl.
     Ihr Mann – sie zeigte auf sein Bild, das in einem Aluminiumrahmen auf der Kommode stand, und Beumann sah in den eckigen Zügen dieses mageren Gesichts, daß sein Vermieter ein Mann mit falschen Zähnen war, ein Magenkranker mit einer runden Nickelbrille vor den tiefliegenden Augen, mit spärlichem Stehhaar, ein Mann, der zum Jähzorn neigte und sehr fleißig war, ein Fanatiker seines kleinen Fortkommens, aber ohne jede Kraft zum Widerstand gegen das Unvorhergesehene, da würde er wahrscheinlich immer gleich aufbrausen, gereizt bis zur letzten Zelle –, ihr Mann gehe jeden Morgen um halb fünf ins Werk, er sei Vorarbeiter in einer Edelmetallfabrik; daß ihr Mann mit Edelmetall zu tun hatte, sagte Frau Färber mit besonders stolzer Betonung; er komme gegen fünf Uhr nachmittags heim. Und da sie, wenn sie einmal sprach, offensichtlich nicht gleich wieder aufhören wollte, erzählte sie noch, daß der älteste Sohn, der fünfzehnjährige, in einem Karosseriewerk arbeite, als Hilfsarbeiter, leider ja, er sei zwar sehr begabt, habe Genie im Praktischen, aber sie könnten es sich nicht leisten, ihn etwas lernen zu lassen, weil sie sich doch das Häuschen aufgebaut hätten, und als Lehrling arbeite er drei Jahre fast umsonst, während er als Hilfsarbeiter jetzt schon fünfunddreißig Mark in der Woche heimbringe, darauf könnten sie zur Zeit nicht verzichten, obwohl ihr Mann fast alles selbst aufgebaut habe, obwohl er die Eisenteile selbst aus dem Alteisenhaufen der anderen Straßenseite herausgesucht habe; der gehöre Sporers von Nummer 24, Alteisen, Lumpen, Papier; so müsse man sich eben nach der Decke strecken, ehrlich, ganz ehrlich, nicht wie die Sporers, bei denen heute wieder die Polizei gewesen sei, weil der alte Sporer immer noch bei Altmetalldieben kaufe, ja nicht einmal davor zurückschrecke, gestohlene Bundesbahnbatterien auszuschlachten, vielleicht habe er seine Finger sogar in… Frau Färber wagte die schlimmen Beziehungen ihrer Nachbarn kaum auszuflüstern, so daß Hans Beumann ein bestürztes Gesicht machen mußte, ohne etwas verstanden zu haben. Er schaute dabei von seinem Fenster hinüber auf die unbebaute Straßenseite, auf die rostigen Alteisenberge, zwischen denen winzig wie ein altes Fräulein ein Dreiradwagen stand, der wahrscheinlich diese Berge auf seinem Rücken hierhergetragen hatte. Frau Färber war sofort mit Erklärungen zur Hand. Die ärmliche Baracke gehöre nicht mehr Sporers, sondern dem Vater des Mannes der ältesten Sporertochter, der habe diese
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