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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
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zu kommen, sie sehne sich so nach ihm. Er versprach es.
     Als er wieder ins Freie trat, war er fast zufrieden mit sich selbst, sogar ein bißchen stolz. Er dachte: am Telephon kann man lügen lernen.
     Er würde zu Fuß in die Redaktion gehen und voller Bewegung vor Anne hintreten.
     Ohne daß er es wollte, blieb er vor einem Radiogeschäft stehen, die ins Riesenhafte vergrößerten Musikerphotographien hatten ihm den Weg verlegt: ein ganzes Schaufenster voll hautnah photographierter großporiger Gesichter, die Mundstücke der Instrumente wie Geschosse in die verzerrten Gesichter gepreßt; und vor jedem dieser Bilder standen Schallplatten. Hans lehnte sein Gesicht gegen die Scheibe, um die Titel lesen zu können. Und er entdeckte auch gleich einen Namen, dem er in Margas Zimmer begegnet war: Gerry Mulligan. Er hatte keine Möglichkeit, lange Überlegungen anzustellen; schon stand er am Ladentisch und fragte ein margahaftes Mädchen, ob er ein paar Mulliganplatten sehen könne. Sie führte ihn zu einer Art Bar mit limonadenfarbenen Telephonhörern, deren Muscheln mit widerlichem Gummi gepolstert waren; er hatte soviel Geistesgegenwart, dem Mädchen klarzumachen, daß er die Platten ja zum größten Teil kenne (wie ihm das heute vom Mund ging, ihn überfuhr vor Staunen eine Gänsehaut um die andere), er wolle sich nur überzeugen, welche Titel vorrätig seien. Und mit dem fröhlichverzweifelten Gesicht des Liebhabers, der von den vielen Platten, die er durch die Finger gleiten läßt – er kennt sie ja alle auswendig –, nur eine kaufen kann, wählte er dann mit gewissermaßen aufleuchtendem Blick die Platte mit dem Titel »Taking a chance on love«.
     In großer Eile verließ er das Geschäft. Es war ihm, als sei er in dem Augenblick, als ihn die Musikerphotographien in dieses Geschäft gezogen hatten, auf eine Rolltreppe gesprungen, die sich nun mit rasch zunehmender Geschwindigkeit auf ein Ziel zu bewegte. Er konnte nicht mehr abspringen. Das wollte er auch gar nicht. Er wollte weiter. Auf jenes Ziel zu. Und die Kraft, die ein solches Ziel einem Mann verleiht, fährt ihm ins Gesicht und in die Arme, er schnalzt mit dem Finger, und das genügt, dieses scharfe kleine Schnalzgeräusch, das ihm von der hochgeworfenen Hand wegspringt, das genügt, aus dem vor Straßenbahnen, Autos und Durcheinander jeder Art klingelnden, kreischenden, und summenden Platz ein Auto herauszureißen, eine Taxe, die sofort geschmeidig herankurvt, eine Tür aufwirft und den Mann mit vielstimmig aufsingenden Polstern empfängt. Seine Stimmung hätte ihm jetzt nicht mehr erlaubt, mit der Straßenbahn zu fahren oder gar zu Fuß zu gehen. Vor dem Haus, in dem Marga wohnte, hieß er den Chauffeur warten, rannte hinauf, schloß auf, trat mit großen Schritten viel zu rasch in das kleine Zimmer, legte die Platte mit beiden Händen aufs Bett, riß einen Zettel aus seinem biegsamen Taschenkalender, was sollte er schreiben, es fiel ihm nichts Rechtes ein, seine Hand aber rutschte schon ungeduldig auf dem Papier hin und her, ein Pferd, das den Startschuß nicht mehr erwarten kann, darum schrieb er einfach drauflos: »Für Dich, Marga, von Deinem H.« Mehr wurde es nicht, aber die Schriftzüge, die wie Blitze auf und nieder sprangen, zeigten zur Genüge, wie es dem Schreiber zumute gewesen war bei der Niederschrift dieser paar Worte. Hans sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Jetzt erst zerfielen seine Bewegungen: langsam stapfte er die Treppen hinunter, das Fieber löste sich, ihn fröstelte nicht mehr noch glühte irgend etwas an ihm, er stieg in die Taxe, als warte sie seit Jahrzehnten jeden Tag genau zu dieser Zeit an dieser Stelle auf ihn, um ihn jedesmal zum gleichen Ziel zu bringen. Als er ins Büro trat, rannte Anne auf ihn zu und wollte ihm gleich um den Hals fallen. Aber da er die letzten paar Schritte doch noch zu Fuß gegangen war – er wollte außer Atem bei Anne ankommen – und es wieder regnete in Philippsburg, deshalb war sein Mantel naß geworden. Den mußte er also zuerst ausziehen – »Sonst wirst du ja naß, Anne, und am Ende erkältest du dich noch!« – schließlich mußte er ihn auch noch sorgfältig über einen Bügel hängen, dann erst konnte er sich Anne zuwenden, die diesen Augenblick so sehr erwartet hatte, daß sie ihre Arme fast zu ungestüm nach ihm auswarf. Er fing ihre Arme ab, lachte ein bißchen, beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre schwere kleine Hand.

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