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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
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Sinn für das schmerzliche Opfer des Mädchens hatten, die nicht empfanden, mit welchen Gefühlen der am Pfahl gefesselte Sebastian diese vielfache Schändung seiner Geliebten beobachtete, Hermann und die Seinen johlten voller Vergnügen bei dieser Szene und waren nicht zur Ordnung zu bringen durch die Zurufe von den unteren Terrassen, wo die seriösen Gäste aus Philippsburg saßen, vielleicht mit auswärtigen Geschäftspartnern und Freunden, denen sie diese kultivierte Unterhaltung als ein Gastgeschenk hatten anbieten wollen, ein Gastgeschenk, das unter dem unzweideutigen Geheul des Straßenreinigers und seiner Genossen zu einer Farce herabgewürdigt wurde. Die auf der Bühne trieben die grausame Handlung weiter, ohne sich von den Eindringlingen beirren zu lassen: die Geliebte wankt nach den grauenvollen Akten mit den Soldaten auf Sebastian zu, will ihm schon die Fesseln lösen, als die Soldaten, ihr Wort brechend, die Pfeile auf die Bogen legen und auf Sebastian zu schießen beginnen.
     Die Geliebte, das sehend, wirft sich vor ihn und stirbt mit ihm unter den Pfeilen der Peiniger. Knut Relow kommentierte: verschiedene Gäste hätten von Cordula für diese Szene immer wieder ein Happy-End verlangt, Cordula aber, die ja die ganze Show selbst entwerfe und inszeniere, habe solchen Wünschen Gott sei Dank immer widerstanden, nicht der historischen Wahrheit zuliebe, mit der sei sie, wie es ja auch erlaubt sei, kühn und eigenwillig verfahren, nein, um einer höheren Wahrheit willen habe sie es vermieden, die harte Szene in einem rührseligen Versöhnungsfest zerfließen zu lassen. Und Hans müsse das doch auch empfinden, die Szene habe so eine ganz andere Gewalt! Hans sagte: »Ja, ja, das stimmt schon.« Ob ihm auch aufgefallen sei, sagte Relow, wie sehr der Tänzer der im Lokal aufgestellten Sebastianfigur ähnlich sei. Cordula selbst betätige sich um dieser Wirkung willen allabendlich als Maskenbildnerin. Hans sagte, ja, das sei erstaunlich, obwohl er von dieser Ähnlichkeit nichts bemerkt hatte. Dieckow schlug vor, eine der Logen aufzusuchen, da sei man vor dem Lärm der Hermann-Bande doch eher verschont als wenn man gerade unter den Mäulern dieser Kerle sitze.
     Relow sagte, das sei Flucht. »Wir müssen die Burschen endlich einmal hart kontern! Man muß ihnen zeigen, daß sie mit uns nicht nach Belieben Schlitten fahren können!« Relow spannte sein Sportlergesicht und ließ seine breiten weißen Zähne sehen. Dieckow aber wiegte seinen runden Kopf auf seinen Schultern (weil er keinen Hals hatte, oder weil man den, falls er einen hatte, nicht bemerkte, sah es aus, als rolle der runde Kopf von einem fetten Doppelkinn gepolstert, von der linken Schulter zur rechten und wieder zurück; da diese Schultern gar nicht breit waren, war das kein langer Weg), sein Gesicht war durch Relows aggressive Parolen beunruhigt worden: ob man nicht juristisch gegen den Burschen vorgehen könne? »Juristisch!« Relow lachte höhnisch auf.
     »Ja, man muß alle Sebastianer zusammenrufen, muß ihnen die Gefahr schildern, ihnen klarmachen, daß mit der Exklusivität schlechthin die Existenz des Nachtlokals Sebastian in Frage gestellt ist…« Dieckow redete eifrig, um Relow von seinen Selbsthilfegedanken abzubringen. Eine Saalschlacht gegen diese Straßenkehrer erscheine ihm, dem Schriftsteller Helmut Maria Dieckow, als eine Niederlage a priori, damit lasse man sich von Anfang an auf das Niveau des Gegners herabzerren, und dagegen verwahre er sich. Während nun ein richtiger Kriegsrat gehalten wurde, zu dem Cordula auch noch einige andere Sebastianer an den Tisch bat, während man die Köpfe zusammenbog und rasch und erregt trank – auch Hans konnte sich der aufflammenden Katastrophenstimmung nicht entziehen –, gebärdete sich Hermann mit seinen Leuten immer ungehobelter. Die Sebastianer mußten sich die Ratschläge, die sie einander gaben, in die Ohren schreien, um sich zu verständigen. Die neu hinzugekommenen Herren, Hans kannte nur Herrn Mauthusius, waren alle Dieckows Ansicht, was die Methode der Verteidigung anbetraf; ob es überhaupt eine juristische Möglichkeit gab, gegen Hermann vorzugehen, konnte allerdings keiner mit Sicherheit sagen. Hausfriedensbruch lag nicht vor, denn er hatte ja, wie sie alle, einen Schlüssel. Woher er den hatte, das war die Frage, die sie am meisten plagte. Wer war der Verräter unter den Sebastianern? Es war, soviel man wußte, keiner in Geldschwierigkeiten. Sebastianer sein, hieß, keine
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