Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
(Spitzname moondog), 25 Jahre, stammt aus Idaho, früher bei Stan Kenton…« Hans war enttäuscht. Er hatte sich das Tagebuch eines jungen Mädchens anders vorgestellt. Eine Wut gegen diese Jazzmusiker überkam ihn. Was hatten die für ein Recht, ein junges Mädchen so weich zu machen, daß es sein Tagebuch mit Daten aus dem Leben von Männern füllte, mit denen es wahrscheinlich nicht ein einziges Wort gesprochen hatte! Oder vielleicht doch? Waren diese Herren alle schon in dem Zimmer gewesen, in dem er jetzt saß? Nein, entschied Hans, dann hätte Marga bestimmt etwas anderes zu notieren gehabt. Hans begann, jene Eintragungen zu studieren, die mit einem Datum versehen waren.
     Daraus würde er mehr über Marga erfahren. Vielleicht auch über Büsgen. Oder gar über Knut Relow.

    Sonntag, 11.
    IV. L’Auberge Rouge 1.50 Straßenbahn -.25
    Alleine mittaggegessen Kalbfleischklopse und Café 3.00

    Montag, 12.
IV.Butter -.79
Mit Jack mittaggegessen -
1 Paar Strümpfe Qualität
    »Illusion«, Farbe »Zeder« 6.90 Eine Schleife, weiß mit rosa Rand 7.50

    Dienstag, 13.
    IV. Kino mit Humphry Bo. 1.60 1Nagelbürste 2. –
    Tampax, Melabon 2.35
Hutkofferreparatur 2.10
»Endstation Sehnsucht« und
»Das Wunder des Malachias« 3.90
2 mal Clo im »Bohème« 0.50

    Hans konnte sich nicht losreißen von diesen Aufzeichnungen. Er blätterte das Büchlein Seite für Seite durch, überschlug alle Eintragungen über Nat Pierce, Artie Shaw, Gerry Mulligan und Konsorten, las aber, als wären es persische Liebesgedichte, die Notizen über Margas Geldverbrauch Wort für Wort und Zahl für Zahl. Und wenn dastand, »Haare schneiden: 1.60« oder »Stoff für Schuhbeutel: 3.76« oder gar »1 Frottier-Handtuch: 2.95«, dann konnte er sich nicht sattsehen an diesen Worten, er las sie wieder und wieder und mit allen Sinnen. Am späten Nachmittag verließ er Margas Zimmer. Das Blut paukte in seinen Schläfen, als er die Treppe hinunterging. Wenn ihm jetzt ein Bekannter begegnete! Als er unten die helle Haustür öffnete, sah er starr vor sich hin. Er wollte keinen Menschen sehen. Hart an den Hauswänden entlang ging er mit großen Schritten zum nächsten Taxistand. Am liebsten wäre er gerannt. Er hatte das Gefühl, als beugten sich die riesigen Häuser weit vor, um ihm ins nach vorne geneigte Gesicht sehen und ihn identifizieren zu können.
     Die Taxe verließ er hundert Meter vor der Traubergstraße. Als er in sein Zimmer trat, hörte er Frau Färber bei Klaff droben den Boden bürsten. Ja, Klaff… Drei Tage werde sie brauchen, hatte Frau Färber gesagt, dann sei das Zimmer so sauber als hätte dieser Klaff nie darin gewohnt. Aber er hatte Klaffs Bücher. Seine Hefte. Selbst wenn er sie verbrannte, Klaff hatte gelebt. Jetzt lag er wahrscheinlich in der Philippsburger Leichenhalle. In Kümmertshausen wenigstens war das so. Die Toten, die nicht ansässig waren, kamen, bis sie überführt wurden, in die Leichenhalle.
     Auf seinem Nachttisch lag ein Brief, ein Telegramm. »Wo bleibst Du bloß. Ich warte so auf Dich. Komm doch, Deine Anne.« Als er sich aufs Bett setzte, spürte er den schweren Schlüssel, das Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Sebastiansorden, in der Rocktasche. Den Pfeil fand er nicht mehr. Den hatte er wahrscheinlich bei Marga vergessen. Er würde ja bald wieder in Margas Zimmer kommen. Jawohl. Und nicht nur einmal. Natürlich mußte er sich später trennen von ihr. Aber nicht jetzt. Nicht in diesem Monat. Nicht in diesem Jahr. Ein Bergsteiger, der im Anstieg ist läßt sich nicht dadurch abhalten, daß man ihm auf einer Photographie oder im Film vorführt, welche Aussichten sich ihm vom Gipfel aus bieten werden. Und kein Künstler verzichtet darauf, seine Vorstellungen zu verwirklichen, obwohl er weiß, daß er seinen Vorstellungen damit oft einen schlimmen Dienst erweist, eine Art Henkersdienst sogar.
     Hans ging jetzt auf und ab. Seine Gedanken nahmen ihn mit. Sie waren aus Erz, dröhnten und leuchteten, er dachte Sätze, über die er noch vor ein paar Tagen gelacht hätte. Er dachte: wer dürfte eine Blüte hindern, Frucht zu werden, da sie doch nicht Blüte bleiben kann! Hans blieb am Fenster stehen und schleuderte solche Gedanken den dreibeinigen Eisensilos entgegen, die auf der anderen Straßenseite standen und finster herüberglotzten. Und auf jeden Gedanken, der ihm befehlen wollte, Marga zu vergessen, nicht mehr, nie mehr ihr Zimmer zu betreten, nie mehr diesen Körper zu spüren, jawohl Körper, Fleisch,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher