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Dunkelmond

Dunkelmond

Titel: Dunkelmond
Autoren: Susanne Picard
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Prolog
    D ie Erinnerung an diesen Tag kehrt immer wieder.
    Schon Kleinigkeiten reichen, um die Bilder in Sanara aufsteigen zu lassen. Das Gefühl sanft schmeichelnder, trockener Hitze auf ihrer Haut, wie es sie nur in den Bergen westlich des Saphirmeeres gibt. Der warme, aschige Geruch nach verbranntem Schwarzstein und Kräutern in den Bronzebecken.
    Unwillkürlich gesellen sich dann Geräusche hinzu, und sie muss die Augen schließen, so deutlich werden die Bilder. Das leise Murmeln zweier Männer, die vor dem Altar um den Segen des Dunklen Mondes bitten. Beinahe lautlose Schritte eines Shisans, der die Schwarzsteinbecken entzündet. Leises Scharren von Füßen auf Granit, kaum hörbarer Atem und unterdrücktes Husten hinter ihr.
    An dieser Stelle erwacht die Erinnerung zu vollem Leben und löscht jede andere Wahrnehmung aus. Sanara ist wieder eine Schülerin des westlichen Tempels, dem Heiligtum des Dunklen Mondes. Es ist der Tag, an dem ihr Bruder den Segen erhalten soll.
    Sie kniet in einer dämmrigen Halle, ganz vorn beim Altar. Das Gewölbe wird von den letzten Strahlen der purpurroten Sonne erhellt, die durch die von Mustern durchbrochenen Granitwände fallen. Doch auch der Dunkle Mond, erkennbar an den Feuern, die auf seinem dunklen Rund brennen, ist zu sehen. Die Robe des Ältesten Shisans vor dem Altar wird erleuchtet, die düsterroten Strahlen des Mondes lassen die gelben und roten Stickereien auf dem Stoff noch stärker hervortreten. Es scheint, als bräuchte sie nur die Hand auszustrecken, um die heiligen Zeichen von Feuer und Erde zu berühren.
    Die festliche Kleidung des Mannes, der neben dem Ältesten kniet, glänzt dagegen in feurigem Gelb und ist mit Diamanten und Bergkristallen bestickt.
    Sanara trägt eine ähnliche Robe. Das Gelb und die Diamanten symbolisieren die Farben des Hauses Amadian, des ältesten der Häuser der Menschen. Der Mann, dessen Rücken sie ansieht, ist das Oberhaupt dieses Hauses und ihr Vater.
    Sie ist seine Jüngste, ein Kind, das erst ein Jahr bei den Shisans des Westens lebt, um die Kunst der Feuermagie und die Herrschaft über die Seelen zu erlernen. Das Feuer beherrscht sie schon leidlich, doch noch darf sie die Jenseitigen Ebenen, wo die Seelen der Toten hausen, nicht allein besuchen. Zu unsicher ist sie beim Gesang des Liedes, das sie dabei an die diesseitige Welt binden soll; zu groß ist die Gefahr, dass sie sich in den endlosen Nebeln jenseits dieser Welt verlöre. Das Lied ist schwer zu erlernen, es besteht nicht aus Worten und kann daher nicht aufgeschrieben werden.
    Sanara geht es nicht schnell genug. Sie kann es kaum erwarten, selbst ins Allerheiligste des Tempels zu treten und den Dunklen Mond um sein Zeichen zu bitten. So, wie ihr Bruder Sinan es heute tun darf. Dazu wird der Gottesdienst abgehalten, und deshalb ist ihr Vater über das Saphirmeer hierhergereist.
    Der Dunkle Mond ist höher gestiegen. Er steht nun genau über dem abgeschlossenen Bereich des Tempelraums, der nach Westen weist. Die Richtung des Schöpfers der Menschen, den sie Akusu nennen, den Dunklen Mond. Sein Zwilling, der Goldene Mond, ist schon über dem Tempeldach verschwunden und nicht mehr zu sehen. Sein Strahlen ist nur zu erahnen.
    Für einen Moment bleibt in ihrer Erinnerung die Zeit stehen. Die leisen Geräusche verstummen, so auch die Gebete ihres Vaters und des Ältesten Shisans. Und Sanara fragt sich, ob dies der Moment ist, in dem ihr Bruder das Zeichen des Schöpfers empfängt. Sie weiß, das Zeichen wird seiner Magie entsprechen. So ist es immer. Jeder Magier, der sich am Ende seiner Lehrzeit Akusu,dem Dunklen Mond, stellt, erhält auf seinem Körper ein sichtbares Zeichen in der Farbe seiner Magien. Sinan besitzt zu gleichen Teilen die Macht über die Erze der Erde und die Glut des Feuers, und so wird sein Zeichen sicher orange sein mit schwarzbraunen Linien und seine Ergebenheit dem Dunklen Mond gegenüber bezeugen.
    Sanara schließt die Augen und versucht, sich vorzustellen, wie ihr Zeichen einst aussehen wird. Wahrscheinlich werden gelblohende Flammen, in denen schwarzbraune Schlieren wabern, ihren linken Arm bis zur Schulter hinaufwandern – Symbol für ihre Macht über die Seelen. So ist es auch bei ihrem Vater.
    Sie senkt den Kopf im Gebet und hält den Atem an, denn sie fürchtet, ein Geräusch könnte die weihevolle Stille stören, die sich im Tempelraum ausgebreitet hat.
    Doch an dieser Stelle schlägt die friedliche und erwartungsvolle Stimmung ihrer Erinnerung
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