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Dunkelmond

Dunkelmond

Titel: Dunkelmond
Autoren: Susanne Picard
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die Bitterkeit, die ihn bei diesem Gedanken überkam.
    Er wusste, so nah an der Bruchkante würden die Anker, die er geschmiedet hatte, keinen Halt finden, doch er musste herausfinden, wie weit das Hochwasser das Steilufer unterspült hatte.
    Die tagelangen Regenfälle hatten den Fluss anschwellen lassen wie nie zuvor. Die meiste Zeit des Jahres war der Lithon einträger Fluss, und hier im grasbewachsenen Hügelland von Erathi wirkte er noch jungfräulich. Meist floss sein Wasser, das sich im Laufe vieler Zeitalter tief in die Lehmhügel gegraben hatte, kaum hüfttief durch ein breites Kiesbett und an Sandbänken vorbei. Hochwasser führte er nur im Frühjahr, wenn im Norden das Eis schmolz. Der Frühjahrsregen, der auch jetzt auf Sinan herabfiel, tat sein Übriges. Dann wurde der Fluss ein reißender Strom, und es wurde schwierig, ihn zu überqueren. Selbst in der Hauptstadt Bandothi, viele hundert Meilen flussabwärts, war das zu spüren.
    Doch das Hochwasser war nie von langer Dauer und selten gefährlich. Die Menschen kannten und erwarteten es sogar, denn es trug zur Fruchtbarkeit des Landes rund um die Hauptstadt bei. Der Fluss kam, überflutete die Felder, hinterließ fruchtbaren Schlamm darauf und kehrte in sein Bett zurück.
    Doch jetzt existierten die sanften Hänge nicht mehr, die in den Jahren zuvor zum Fluss führten und von grünen Büschen und Gras bewachsen gewesen waren. Jetzt schien es, als habe der reißende Strom die Berge wie mit einem Schwert zerteilt. Nackte, rötliche Lehmwände stürzten von den mit kurzem Gras bewachsenen Hügelgipfeln hinab in das Flussbett, wo die schäumenden Strudel sich immer tiefer in die Uferhänge gruben. Das Wasser war rotbraun gefärbt vom Lehm, den es aus den Hängen wusch. Der Fluss war zu einem wilden Tier geworden, das gierig an der Erde fraß, als wäre sie eine erlegte Beute.
    Als Kind hatte Sinan gelernt, Fluss, Berg und Wald gebe es seit der Schöpfung der Welt durch Ys und Syth, und alles werde durch die beiden Schöpfergeister geschützt. So hatten sie dafür gesorgt, dass Fluss und Land sich gegenseitig nährten, anstatt sich zu zerstören.
    Doch er hatte derartige Geschichten schon lange nicht mehr gehört. Auch wenn sie ihm immer wieder in den Sinn kamen, sie hatten nicht mehr Bedeutung als die Märchen und Gesänge, die der Musikant im Lager zum Besten gab.
    Sinan selbst glaubte schon lange nicht mehr daran, dass es die Schöpfergeister kümmerte, was in Vyranar, ihrer Schöpfung, geschah. Er war überzeugt, dass Ys, die die Ordnung und Harmonie der Welt bestimmte, fortgegangen war, so wie sie es schon einmal vor Äonen getan hatte.
    Wenn noch einer der Schöpfergeister auf der Erde weilte, dann war es Syth, der Herrscher über die stete Veränderung und das Chaos. Vielleicht hatte er von dem sonst eher träge dahinfließenden Strom Besitz ergriffen. Das Toben und Schäumen des Wassers jedenfalls hätte dafür gesprochen.
    »Heda! Was machst du da, Schmied? Weg von der Kante, oder willst du mit deiner dunklen Erdmagie jetzt auch noch den restlichen Boden verschwinden lassen?«
    Der Ruf schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken. Es war einer der elbischen Wachsoldaten. Er war aufgesprungen, schirmte die Augen mit der Hand ab und sah finster zu Sinan hinüber. Er kam näher, zögerte jedoch, an dem verkrüppelten Baum vorbeizugehen, dessen Wurzelwerk Sinan untersuchte.
    Fürchtete schon Sinan, bei einem unbedachten Schritt zu verunglücken, so hatte der Elb wohl noch größeren Respekt vor dem ihm unbekannten Element.
    Im nächsten Moment spürte er, wie eine feste Hand ihn an der Schulter packte und von der Kante des Steilufers zurückriss. Es war einer der menschlichen Sklaven, ein Schmied, wie er. Ein zorniger Blick traf ihn.
    »Du bringst uns in Gefahr!«, zischte Githalad. »Willst du, dass wir alle umgebracht werden?«
    Sinan biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte die Antwort, dass sowohl er als auch Githalad sicher die Letzten waren, die von den elbischen Soldaten etwas zu befürchten hatten. Beide geboten sie in hohem Maße über die Magien der Erde und des Feuers – ohne sie hätten der König und sein Heer keine Möglichkeit gehabt, nach der großen Schlacht von Kharisar ihre Schwerter und Harnische wiederherzurichten.
    Er sah zu dem Elb hinüber. Obwohl die Entfernung zwischen ihnen mindestens zwanzig Schritt betrug, konnte Sinan seine Augen sehen, die in tückischem Grün funkelten. Ein Windmagier.
    Plötzlich hatte Sinan das
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