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Wiener Requiem

Wiener Requiem

Titel: Wiener Requiem
Autoren: J Jones
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PROLOG
    Keiner der Anwesenden erinnerte sich später an etwas Ungewöhnliches an diesem Tag. Es war eine ganz normale Probe gewesen, unter der Leitung des neuen Dirigenten der Hofoper, Gustav Mahler. Die Sänger nannten ihn den »Feldwebel«.
    Man bereitete sich auf eine Aufführung des
Lohengrin
vor, und in Sachen Wagner war Mahler immer besonders heikel. Obwohl er zum Christentum konvertiert war, bevor man ihm die neue Position offeriert hatte, ging Mahler, als geborener Jude, immer wie auf Tiffany-Eiern, sobald er eines der Werke des Bayreuther Meisters vorbereitete. Denn noch immer war Wagner der Liebling der deutschnationalen Presse. Würde Mahler auch nur einen dieser Kritiker durch eine einzelne falsche Note, einen geringfügigen Fehler in seiner Inszenierung verärgern, würde er wieder üble Kritik auf dem Niveau von »Was kann man von einem Juden schon erwarten« ertragen müssen.
    Heute also wieder die übliche Schikane. Und sofern der Herr Direktor seiner normalen Routine folgte, würden es mehr als acht Stunden werden.
    Am Morgen war das Fräulein Margarethe Kaspar, eine junge Mezzosopranistin aus dem hintersten Österreich, dem Waldviertel und damit einem der unwahrscheinlichsten Orte, aus dem eine Sängerin stammen konnte, das Opfer seiner schrillen Anschuldigungen. Ein von Inzucht gezeichneter,mondgesichtiger Schweinebauer käme eher aus einer solchen Gegend. Aber doch keine Sopranistin der Wiener Hofoper!
    Hier war sie aber nun, das Fräulein Kaspar aus Krumau im Kostüm ihrer Rolle als einer der vier Knappen in Wagners Adaption des deutschen Ritterromans. Ihre tiefrot geschminkten Lippen zitterten, denn sie war den Tränen nahe.
    »Sie singen, als würden Sie die Schweine zum Trog rufen«, herrschte Mahler sie an. »Bitte lassen Sie es mich nicht bereuen, Sie verpflichtet zu haben.«
    An diesem Punkt, so wurde später berichtet, brach das arme Kind in Tränen aus, und ihre sonst so samtweiche, helle Haut verlor allen Reiz. Rote Flecken bildeten sich auf ihren Wangen, schamhaft schlug sie ihre kleinen Hände vor das Gesicht.
    »Meine Beste!«, schrie Mahler weiter. »Reißen Sie sich zusammen! Dies ist ein Beruf, verstehen Sie! Wenn Sie dafür nicht geschaffen sind, gehen Sie zurück aufs Land zu den Dorfjungen mit ihren dicken Fingern.«
    Bei dieser letzten Bemerkung stand Mahler in unmittelbarer Nähe des jungen Mädchens, trotzdem wurden seine Worte bis in den letzten Rang getragen.
    Das gesamte Ensemble verstummte plötzlich; selbst das kakophonische Einstimmen der Instrumente im Orchestergraben und das Hämmern hinter der Bühne erstarben. Das war zu hart gewesen; selbst Mahler schien zu erkennen, dass er die Grenzen des Anstandes überschritten hatte.
    Er zog die Sängerin enger an sich und legte beschützend den Arm um sie. Selbstverständlich gab es das Gerücht, dass sie seine Geliebte sei. Sie war nicht groß, überragte aber dennoch den kleinen Dirigenten um eine halbe Haupteslänge. Er maß inseinen abgewetzten Lederstiefeln einen Meter dreiundsechzig.
    »Nun komm schon, Grethe.« Er klopfte dem jungen Mädchen auf die Schulter, es war ein nicht sehr überzeugender Versuch, sie zu trösten. »Es tut mir leid, dass ich Sie so angeherrscht habe. Aber ein hohes C muss man treffen, da kann man sich nicht allmählich hinaufsingen. Das ist unverzichtbar, einfach unverzichtbar.«
    Sie schluchzte noch, als er sie verließ und sich dem Rest des Opernchores zuwandte.
    »Was starren Sie denn so? Zurück an die Arbeit.« Er klatschte mit Nachdruck lehrerhaft in seine Hände.
    In genau diesem Moment gellte ein Ruf hinter dem halbgeschlossenen Vorhang hervor.
    »Achtung!«
    Es war jedoch zu spät; der schwere Feuervorhang aus Asbest, dessen Säume mit Blei gefüllt waren, krachte herunter. Er sauste hinunter auf das unglückliche Fräulein Kaspar, das noch immer in ihre Hände weinte. Nur knapp verfehlte der Vorhang Mahler, der zur Seite gesprungen war.
    Mit einem furchterregenden Getöse schlug der Vorhang auf den Bühnenboden auf, gefolgt von einem Moment fassungsloser Stille. Nur die kleinen schwarzen Lacklederschuhe der Sopranistin schauten noch unter dem Vorhang hervor. Dann hörte man die sich überschlagenden Stimmen der Bühnenarbeiter hinter dem Vorhang, eine übertönte die andere: »Sie ist tot. O mein Gott, das kleine Singvögelchen ist tot.«

1. KAPITEL
    Dienstag, 6. Juni 1899
    Wien, Österreich
     
    Werthen weigerte sich, zu Fuß auf den Friedhof zu gehen. Er würde dem Toten seinen
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