Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
eben abqualifizierten. In Bezug auf sich selbst aber erwartete sie – nichts. Matthes hatte nicht mehr mit ihr gesprochen, hielt es vielleicht für überflüssig angesichts der Übereinstimmung, die sie seit vielen Jahren zelebriert hatten. Wenn man einander besetzt hält, wähnt man sich im anderen zu Hause und muss darüber, wo Tür und Fenster sind, über die Farbe des Teppichs und die Bettwäsche kein Wort mehr verlieren. Dass man aber glaubt, auch mit dem Blick des anderen aus dem Fenster zu schauen, mit seiner Hand die Tür zu öffnen, unter den Teppich zu kehren, was man – wie der andere – nicht vor Augen haben möchte (von Bettwäsche ganz zu schweigen), ist trügerisch: Anfangs wundert man sich vielleicht, dass der andere die Tür zuhält, die man selbst zu öffnen im Begriff steht, oder man sieht sich getäuscht, weil der andere auf etwas herumhackt, was man doch gerade erst unter den Teppich verbracht hat. Später dann lässt man um der Gewohnheiten willen davon ab, den anderen überhaupt zu bemerken, während er an der Leine turnt und verlernt, sich selbst als Zentrum seines Bewegungskreises zu sehen. Dessen Radius bestimmt sowieso der andere. In dieser geheuchelten Sicherheit hatten sie sich beide befunden, und es war Maljutka gewesen, die ihr den Garaus gemacht hatte mit ihrem für Helene gefährlichen, spröden Charme. Ihrer betörenden Unschärfe, die eine nicht weniger betörende Klarheit im Schlepptau hatte. Sie hatte sich nicht begierig in eine Beziehung gestürzt, war aber doch überrollt worden, auch von Maljutkas Beklommenheit, ihrem Dilemma , aus dem sie ihr aufhelfen wollte, so oder so. Ihr Helfersyndrom? Für Liebe kann es sicher nichts, denkt Helene, und geliebt hat sie Maljutka. Nicht als Ersatz für Matthes, aber neben ihm, unabhängig von ihm, bedingungslos. Matthes hat das merken müssen, auch wenn er es vielleicht nicht wusste. Hätte er es gewusst, hätte er klar reagieren können. Keine Sentimentalitten war zum Schrei der Not geworden in einer Situation, die bedrohlich gewesen war für Matthes. Bedrohlich unklar. Und das Beunruhigendste daran, meint Helene heute, sei gewesen, dass sie geglaubt hatte, sich entschieden zu haben.
Vorerst.

Der Rollstuhl ist wieder da. Die Schwester hat ihn heraufgebracht aus dem Magazin. Helene bekommt eine Stütze ums rechte Bein, die sie vor neuerlichem Umknicken schützen soll. Eine lederne Sohle, von der aus am Knöchel links und rechts Plastikschienen ausgehen; in Wadenhöhe enden sie dann in einem weißen Gurt, der ums Bein zu schnallen ist. Warum soll sie die tragen, wenn sie jetzt wieder im Rollstuhl sitzt?
Wenn Se ma puschen jehn , sagt die Schwester und ist verschwunden.
Pissen, pinkeln, Wasser lassen, mal müssen. Manche sagen eben puschen dazu … Helene muss grinsen. Natürlich passt der Fuß in keinen Schuh. Vorerst auch ohne Gestell nicht, und später, wenn er wieder abgeschwollen sein sollte, würde sie einen alten Schuh zerschneiden müssen, um etwas an die Füße zu bekommen. Sie wird Matthes bitten, ihr die Stoffturnschuhe mitzubringen, die sie letztes Jahr gekauft hatte, um regelmäßig joggen zu gehen. (Matthes hatte damals gelacht, denn er wusste im Gegensatz zu ihr, dass heutzutage kein Mensch mit einfachen Stoffturnschuhen joggte. Schon gar nicht, wenn man etwas schwerer war als leicht, dann nämlich drückte das Gewicht so unvorteilhaft auf die dünne Sohle, dass Schmerzen die Folge waren.)
Da sie nie mehr joggen gehen würde, kommt es auf die Schuhe wirklich nicht an, denkt sie. Die Zufriedenheit mit dieser Feststellung bemerkt sie einen Moment nach deren Entstehung und wundert sich, dass der Schmerz ausbleibt. Sie hat sich schnell daran gewöhnt, dies und das nicht mehr tun zu können. So umstandslos, dass sie sogar schon daran denkt, wie mit nutzlos gewordenen Dingen zu verfahren ist.
Sie tut sich Genüge, anders kann sie es nicht nennen.
Matthes hat sie in den letzten Jahren wohl kaum Genüge getan.
Maljutka hat genügend getan, um Helene aus ihrem Gefüge zu reißen.
Hätte ich doch ihrem Leben Genüge getan, denkt Helene.
Wenn Maljutka zum Ende hin zufrieden gewesen war, so wollte sie es auch zufrieden sein, aber sie kann nur raten, wie Helene ihre letzten Wochen verbracht hat.
Sie ruhen lassen.
Schlafen.
Es klopft, und Raphael steht im Zimmer. Raphael, der gute alte Freund! Sie schaukeln einander ein Weilchen in den Armen. Schön ist das. Raphael sieht selbst im Herbst sommerbraun aus, obwohl er nie in ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher