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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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Winkel, jede Ritze füllt. Es ist, als nehme sie das Fitzchen Metall endlich als zu sich selbst gehörig wahr, als fühle sie seine Existenz. Der Verstand meldet sich, sagt, dass es wohl eher unmöglich sei, etwas wie Blutabsorption oder das Einwachsen von Fremdkörpern tatsächlich wahrzunehmen, aber sie wischt ihn beiseite und sieht zufrieden aus, als Raphael ihr in die Augen schaut.
Du bist zufrieden mit mir?
Aber ja doch. Aber wirklich. Aber ganz sicher. Aber hat er denn keine Bedenken, Tochter und Enkel hierzulassen, Eltern und Freunde? Nein, hat er nicht. In Schweden erinnere ihn manches an die untergegangene DDR, das dürfe man zwar nicht laut sagen, aber er sage es jetzt einfach mal doch. Vieles sei kostenlos, so eine gute Schulspeisung für Kinder oder der Eintritt in Museen und Tierparks, es gebe Lehrmittelfreiheit und gemeinsamen Schulbesuch aller Kinder, Berufsqualifikationen bei weitergezahltem Gehalt … Halt, halt, halt, Raphael. Die Schulspeisung in der DDR war weder gut noch kostenlos, erst, wenn man drei Kinder hatte, zahlte man nichts mehr, möchte Helene entgegnen, für Museum und Tierpark hat man gelöhnt, wenn es auch mit den heutigen Preisen nicht zu vergleichen war, und die Lehrmittelfreiheit galt allenfalls in Berlin. Zwar gingen die Kinder bis zur achten Klasse gemeinsam zur Schule, ehe sie sich aufspaltete in zehnklassige und zum Abitur führende Zweige, aber wer weitergehen durfte, entschied nicht immer die Leistung, sondern auch die soziale Herkunft eines Schülers. Berufsbegleitende Qualifikationen waren selbstverständlich gewesen, das schon, aber das führte zu keinem nennenswerten Karriereschub. Wer mehr Geld hatte, konnte davon unter Umständen nicht mehr kaufen, wenn er keinen kannte, der an der Konsumgüter quelle saß. Hast du das vergessen, Raphael? Aber sie sagt das alles nicht, es wäre zu anstrengend, und außerdem möchte sie mit Raphael sowieso nicht über das untergegangene Land diskutieren. Seltsam, dass der querköpfige, dissidente Freund, der zu alten Zeiten viel erdulden musste an Bespitzelung und Berufsverbot, im Nachhinein nicht immer deutlich zu sehen scheint, was ihm da gefehlt hat. Schweden ist also nicht nur das Linaland, es ist voll beladen mit Raphaels Sehnsüchten nach der eigenen Kindheit, nach Jugendzeiten.
Sie schweigen, Raphaels gerötete Wangen sehen hinreißend aus auf dem braunen Teint, und Helene dürfte sich jetzt fast wie Lina fühlen, so gut gefällt ihr das.

Die Tage sind schneller als sie, es ist einfach nicht zu schaffen, auch nur einen einzigen von ihnen einzuholen und mit dem Gefühl ins Bett zu fallen, ihn hinter sich gebracht zu haben. Immer sind sie gerade entwischt, wenn sie einschläft, und wenn sie aufwacht, muss sie zusehen hinterherzukommen. Es passiert so viel. Zu viel, denkt sie, ihr Gehirn läuft seiner alten Form hoffnungslos hinterher. Es dauert, bis sie jemanden versteht. Wahrscheinlich beläuft sich die Verständnisscheide auf wenige Sekunden, aber sie rechnet sie noch nicht ein, ist jedes Mal entsetzt über das gähnende Loch zwischen dem Moment des Aussprechens und dem Verstehen. Lieber gerät sie in Panik, als in solch ein Loch hineinzufallen, denkt sie, aber ehe die Panik einsetzen könnte, hat sie meist doch verstanden. Sie versucht sich seit Kurzem heimlich daran, Texte zu schreiben, erinnert sich der Anfrage, die sie nicht zu einem Auftrag hatte werden lassen. Texte auf Hauswänden, auf Trottoirs oder Bänken müssen kurz sein, dem Vorübergehenden auch durch einzelne Worte ins Auge fallen, und sie müssen mit Stadt zu tun haben, sollen sie doch irgendwie zu städtischen Gebilden werden. Merkwürdigerweise verlockt es sie nicht, den Laptop zu benutzen, sie nimmt die linke Hand, was zu einer gewissen Übereinstimmung des Schreibtempos mit dem Sprechtempo führt. Erster Versuch:
der abend schwebt, zitternder ballon,
über der stadt, in ihren höfen
ruhen die beutetiere, erinnern
den feind, schlaf,
verkleidet als penner,
im flaschenjargon verfilzt …
Woher sie das nahm, ist ihr unklar, sie hat einfach geschrieben, Wort für Wort ist ihr so und nicht anders in den Sinn gekommen, die große Anstrengung steckt ihr buchstäblich in den Knochen, die, jetzt merkt sie es, unbändig zittern. Kaum aber kommen die nächsten Worte, löst sich die Spannung, sie muss weiterschreiben:
über der stadt
die wolkigen lastkähne
beladen mit schwaden
nebels den wir verlassen
haben
Helene glaubt nun wieder die gespannte Sehne im Kopf zu spüren,
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