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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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hätte sagen können, ob sie ihm und ihr angenehm gewesen wären. Also berührte sie ihn nicht, wenn auch ihre Hände beständig gezuckt hatten, die rechte, die linke, sich auf seine Unterarme, das verknotete Handpaar zu legen. Also hatte sie von Beliebigem gesprochen (sie weiß es nicht mehr) und ihn beobachtet, wie das Beliebige ihn wütend zu machen begann und seine Augen ins Flackern brachte, dass das Handpaar schließlich ganz blutleer gepresst dagelegen hatte und die Zähne so fest miteinander verbunden schienen. Also hatte sie überlegt, ob sie überhaupt wieder voneinander zu lösen sein würden. Also so, in etwa. Aber ihr Sinn hatte gleichzeitig sehr wach danebengestanden und sie beide beobachtet, ohne dass er dem Beliebigen aus ihrem Mund hätte ins Wort fallen können, und er hatte natürlich wahrgenommen, wie schwer es ihr gefallen war, ohne ein Berühren auskommen zu müssen, wie schwer es ihm gefallen war, sich dem Beliebigen aus ihrem Mund auszusetzen. Ihm war womöglich danach gewesen, Butter bei die Fisch zu machen und ihr einfach gleich hier in der Küche die Klamotten abzureißen und sie einfixdrei zu ficken, dass ihnen schwarz würde vor Augen und sie dem Grün im Blau nicht länger ausgesetzt hätten sein müssen. (Ja, so denkt Helene jetzt.) Aber ihre Haut war alt geworden und schämte sich, so schlaff (trotz des Specks) von den Bauchseiten herabzuhängen, so faltig verkniffen von Brust bis Scham über Kinder zu reden, die heute hinreißend waren wie früher sie selbst. Sein Rücken, gekrümmt vom Alter, konnte sich einfach nicht vorstellen, sie würde ihn schön finden wie früher und ihn kneten, während der Schwanz in ihr Wache schob, aufmerksam, lauschend. Und so hatten sie beide, da sie mehr in sich selbst hockten, einfach aneinander vorbei die Minuten verbracht, auf ihre jeweiligen Ziele gestarrt und gar nicht gemerkt, dass sie ein und denselben Punkt fixiert hatten: ihr Einssein zu zweit, ohne Leine und Besetzung des anderen. Was gerade geschah, hätten sie wahrscheinlich beide nicht sagen können, aber dass es etwas war, was ihr Leben entscheiden sollte, hatten sie schon gefühlt. Das Jahr, in die Minute des Schiedsspruchs geschrumpft, hatte zusammengekrümmt zwischen ihnen auf dem Tisch gelegen, bis Matthes es hochgehoben und fallen gelassen hatte mit einem großen Ach , während sie es aufgefangen und versucht hatte, ihm wieder Luft zu geben, dass es atmen konnte. Keine Sentimentalitten!, hatte er unvermittelt geschrien, als er schon wieder auf der Treppe nach oben gestanden und sich noch einmal umgedreht hatte, und das war für sie das Aus gewesen nach dem Ach , das Jahr wurde nicht wieder, und wenn sie es in den wenigen Wochen, die ihr bis zum Platzen des Aneurysmas noch bleiben sollten, angesehen hatte, so war sie traurig geworden, denn es hatte wie tot am Haken des jeweiligen Tages gehangen, und die Tage starben, indem sie eingingen ins tote Jahr, das natürlich nicht lebendiger wurde dadurch.
Am Tage darauf waren sie dennoch zu Pietros Geburtstag gefahren.

Seit gestern hat sie wieder das Lied im Ohr, in Thüringer Mundart, in dem von den Sentimentalitten die Rede ist. Ein spöttisches. Einem Professor wird ein melodisch gackerndes Huhn vorgeführt, und er stürzt sich drauf mit Eifer und Geifer. Bietet dem Besitzer Geld, einen Trabi – das Lied stammt wohl aus den 80 ern – und was des Bürgers Begehrlichkeit damals wohl noch so geweckt haben mochte. Der aber will davon nichts wissen und dem Viech , keine Sentimentalitten! , den Kopf abhacken, damit es am Sonntag nei in sein Toppe kommen kann. Früher hatte Matthes die Wendung im Scherz gebraucht, wenn ihm etwas nahe kam, was nicht in seine Nähe gehörte. Billy zum Beispiel. Oder die von einem berückenden Foto ausgehende Rührung, die er nicht sofort als Kitsch abtun wollte, sondern allenfalls, wenn ihm das jemand vorgemacht hatte. Überhaupt ließ er seine Haltungen gerne im Halbdunkel, erahnbar zwar, aber mehrdeutig auszulegen, sodass man ins Grübeln geriet. Sagte jemand laut und unüberhörbar, was er meinte, so schien jedes Mal ein Damm zu brechen in Matthes. Alsbald arbeitete er sich an der geäußerten Haltung gewaltig ab, als brauche er sie, um die eigene überhaupt überprüfen zu können. Manchmal demontierte er sein Gegenüber geradezu wegen der geäußerten Sätze, Helene wusste jedoch mit den Jahren, dass allzu große Abstoßung bedeutete, er gelänge früher oder später zu genau der gleichen Haltung wie der
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