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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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unterschrieben, das ihr Autofahrten, Bergsteigen und Schwimmen ohne Begleitung verbietet, bis auf Weiteres . Das fiel ihr nicht schwer, denn Autofahren kann sie einhändig sowieso nicht, einen Berg hat sie noch nie bestiegen, und die einzige Schwimmhalle in der Nähe von Karlshorst war im Frühsommer geschlossen und nicht wieder geöffnet worden, wie Mareile erzählt hat. Sie muss bis nach Mitte zum Schwimmen fahren. Helene sieht sie im Badeanzug. Vor einem Jahr wölbten sich drei, vier Speckwülstchen über den Bauch, jetzt glänzt sie mit schlanker Taille. Aber die Beine sind dennoch Stampferchen, die Waden gehen umstandslos und ohne merkliche Verschlankung an den Knöcheln in die Füße über. Eben ihre Beine. Was hatte Maljutka Malysch hingegen für schlanke Fesseln gehabt; wenn sie sich doch nur hätte entschließen können, kürzere Röcke zu tragen!
Aber was denkt sie denn da … Maljutka lebt nicht mehr, ihre Röcke sind geräumt worden wie all ihre anderen Sachen auch, die Söhne haben dafür gesorgt. Wahrscheinlich, ja, ganz sicher!, hatten sie die Habe ihrer Vatermutter gründlich durchgesehen, ehe sie sie aus der Wohnung schafften. In der sie übrigens nie gewesen war, Maljutka hatte es durchgehalten, ein Geheimnis daraus zu machen. Wie immer, wenn sie an Viola Maljutka Malysch denkt, wischt sie die Tränen aus den Augenwinkeln. Es war so vieles ungesagt geblieben zwischen ihnen wie ausgesprochen wurde, muss sie denken. Es hielt sich die Waage, im Gleichgewicht. War es auch eine Sache des Gleichgewichts, Maljutka den Laufpass gegeben zu haben, indem sie selbst davongelaufen vor ihr, damals, in Charlottenburg? Jemandem den Laufpass geben … Heißt das, ihm das Loslaufen nahezulegen? Zu erlauben? Aber sie hatte doch Maljutka nie untersagt, loszuziehen! Hatte sie ihr nicht viele Male geschrieben, dass es ihre schönste Vorstellung wäre, Maljutka verbandelt zu sehen? Mit jemandem, der ihr näherzukommen in der Lage war als sie selbst?
Der Bus rollt an, Matthes steigt aus. Trägt eine karierte Schiebermütze, in der er sie immer an Sherlock Holmes erinnert. Er hat jedoch eine Art zu sehen, die kaum an Sherlock Holmes erinnert, während er ihr immer das zweite Gesicht nachsagte. Sie konnte Verwandtschaftsbeziehungen aus einer Art des Augenaufschlages aufspüren, hatte einen untrüglichen Blick für Ähnlichkeiten der Physiognomien, ein phänomenales Gesichts- und Namensgedächtnis, konnte blitzschnell schlussfolgern, sodass sie auf eine andere Weise und stets viel schneller als er orientiert war, wenn es darauf ankam.
Ob das immer noch gilt, weiß sie nicht.
Matthes nimmt sie fest in den Arm.

Sie ist fürchterlich gestürzt auf dem Weg zum Markt. Jetzt sitzen sie beim Chinesen, Matthes reibt ihr den Knöchel, der im steten Anschwellen ist. Umgeknickt ist sie, und zwar mit ungekannter Wucht, fiel sofort, schlug lang auf dem Schotterweg auf und blieb erst einmal heulend dort liegen. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Dazwischen musste sie lachen, die Zähne zeigen und spöttisch von den kleinen Dingen, die so nebenbei passieren, palavern, damit Matthes das nicht allzu ernst nahm. Matthes nahm das aber sehr ernst, wie es seine Art war, bat in aufbrausendem Befehlston einen vorbeikommenden Passanten um Hilfe, seine Frau – mein Gott, sie ist ja wirklich seine Frau! – aufzurichten und auf die Sitzfläche des Rollators zu befördern. So hat er sie hierher geschoben, ins Warme, wo er ihr Schuh und Strumpf vom rechten Fuß gezogen und die Kellnerin um einen kühlen Umschlag gebeten hat. Ihr ist das alles eher unangenehm, aber sie weiß, dass es sinnlos ist, ihren Mann – mein Gott, er ist ja wirklich ihr Mann! – davon abhalten zu wollen, seine Notfallhilfefähigkeiten zu zeigen.
Wollen wir nicht endlich bestellen?
Sie hat Hunger. Freut sich auf Frühlingsrollen, die sie zur Probe auf die Küche gern vor dem Hauptgang nimmt. Als sie kommen, sind sie zwar heiß, aber sehr fettig und grob zusammengeschustert. Nun weiß sie, was sie zu erwarten hat. Matthes hat natürlich keine Frühlingsrollen auf seinem Teller. Er bestellt nämlich erst, wenn sie fertig ist damit, und dann meist nur eine Kleinigkeit, selbst wenn sie mehrere Gänge geordert hat. Sie nennt das Geiz, er nennt das keinen Hunger haben . Sie glaubt zu wissen, dass er zur gleichen Zeit zu Hause unmäßig zulangen würde, er macht geschmäcklerische Lippenbewegungen und tut so, als reizte er im kleinsten Pröbchen seinen Appetit aus. Das ist für
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