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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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imaginär bleibende Maljutka geschrieben hatte, und weitet sich zu Bildern: Immer noch war ihr Stimmungspegel schwankend, unausgeglichen gewesen. Es war, als zerbräche die Mattheskiste einfach irgendwo im Abseitigen, ihr gar nicht zugänglich. Abend für Abend schlief sie nun allein im viel zu großen Bett, und Abend für Abend wünschte ihr Matthes mit ruhiger Stimme eine gute Nacht, ehe er sich in sein Dachzimmer begab. Sie gifteten sich nicht an, sie zerstritten sich nicht, es gab zahllose unausgesprochene Übereinkünfte, die Kinder betreffend. Ihr Matthesbild verschwamm zusehends, sie glaubte nur noch wenig von ihm zu wissen, aber auch er wusste von ihr ja schon lange nichts mehr, wusste nichts vom Maljutkaeifer und dessen Vorstößen und Rückzügen … Es war, als hätte die in langen Jahren unmerklich entstandene Gewissheit, einander innezuhaben und besetzt zu halten, sich nun ebenso unmerklich in ihr Gegenteil verkehrt: Sie hatten sich sozusagen jeder aus dem anderen zurückgezogen, einander entkolonialisiert . Störte dabei die Installation eines nach wie vor gemeinsamen Lebens? Sie hatten bis dahin nicht ernsthaft daran gedacht, sie zu demontieren. Nicht Faulheit, nicht Feigheit hinderten sie daran, den Zustand zu verändern oder zu beenden. Vielmehr sahen sie sich irgendwie außerstande, die Leine, an der sie einander führten, auch nur für einen Moment loszulassen, weil sie die Orientierungslosigkeit fürchteten, die sich (sie dachten: zweifellos!) dann einstellen würde. Dabei hatte sich die Leine zwar ausgeleiert, war nicht mehr knapp armlang wie in ihren ersten Jahren (sie reichte jetzt im Normalzustand vom Doppelbett über die Treppe in Matthes’ Dachzimmer und verlängerte sich während seiner oder ihrer Abwesenheiten vom Hause), aber sie spürten sie ständig, sie war ihnen heilig, die Fessel. Gab Sicherheit, Zutrauen, war wechselseitige Bürgschaft, ohne die sich ihre Existenz einfach nicht mehr definieren wollte. Nicht einmal Maljutkas Festungssturm hatte sie lösen können.
Wo ist sie eigentlich jetzt, die Leine?
Helene hält inne.
Nein, sie kann sie im Moment nicht spüren.
Sollte Matthes sie gekappt haben?
Hatte Maljutka sie abgerissen, ehe sie starb?
Vielleicht war sie einfach abgerutscht vom rechten Handgelenk! So schlaff, wie die Hand herabhing, musste Helene das gar nicht bemerkt haben. Eines schönen Tages hatte die nutzlose Patsche ihre Nutzlosigkeit womöglich nicht mehr ertragen können und die Schlinge abgleiten lassen. Ja, beschließt Helene, so soll es gewesen sein.
Mal sehen, wie weit sie mit dieser Annahme kommt.

Der Oktober läuft auf sein Ende zu, gestern gab es sogar einen ersten Schneeschauer, der aber folgenlos blieb, denn die Erde war viel zu warm, als dass er hätte liegen bleiben können.
Helene hat sich mit Matthes an der Bushaltestelle verabredet, sie wollen das Stück zum Markt schaffen und beim Chinesen das Mittagessen ersetzen. Sie muss womöglich eine Mütze herauskramen, denn als sie das Fenster öffnet, ist die Luft merklich kühler als gestern. Lange steht sie mit dem Rollator vorm Spiegel und sieht sich an, kommt sich wieder einmal sehr fremd vor mit dem Linksgrau im Haar, mit den dicken Augenlidern und geschwollenen Fingern, die sie, zu dumm!, nicht in den Jackentaschen verschwinden lassen kann, denn sie muss sich ja festhalten, an ihrer Lauflernhilfe , wie sie es nennt. Letzte Woche hatten sie begonnen, ihr Lymphdränagen zu verordnen. Für zwei, drei Stunden tritt Besserung ein danach, sind die Finger nicht gar so wurstig. Auch Kälte scheint zu helfen, hat sie den Eindruck: Immer, wenn sie längere Zeit draußen gewesen war, gingen die Schwellungen ein wenig zurück. Sie massiert in Gedanken selbst ihre rechte Hand, ihren Silberring hat sie seit der OP nicht mehr getragen, er ist in ihrem Portemonnaie gelandet, in einem kleinen Tütchen. Jetzt aber schnell: Mütze auf, Tuch um den Hals. Sie hat ja noch gar keine Schuhe an! Ärgerlich nimmt sie die Mütze wieder ab und löst das Tuch, denn das Schuhanziehen versetzt ihr stets schwere Schweißausbrüche.
Endlich fertig.
Den Fahrstuhl nimmt sie, trifft wider Erwarten Peter Preißler, der aber stoisch an ihr vorbeisieht, und verlässt die Klinik. Matthes hat sie von dem ehemaligen Klassenkameraden noch immer nichts erzählt. Hatte sie keine Gelegenheit gespürt, ihn von sich ablenken zu wollen? Sie denkt an dieser Stelle nicht weiter.
Das Gelände muss sie auf einem ausgewiesenen Fußweg verlassen, der einen
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