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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava
Autoren: Ulrich Magin
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August 1942
    Die Wogen des Atlantiks rollten träge heran und brachen sich mit lautem Donnern an den schwarzen, mit Seetang überwucherten und mit kleinen Muscheln verkrusteten Klippen der Insel. Das Tosen der Brecher war noch auf dem Festland zu hören, es klang wie lauter Kanonendonner des Krieges. Seemöwen kreisten und schrien, und zwischen den Donnerschlägen hörte man das Blöken der achtzig Schafe.
    Wind zog auf, eine starke Brise, und fegte den Morgennebel fort. Die Insel war nicht eben groß, man konnte sie in etwa einer Stunde bequem zu Fuß umrunden, sie hob sich auch kaum über die See. Ein paar wenige verkrüppelte, von den heftigen Böen gebeugte Bäume und Sträucher krallten sich in den Moorboden zwischen Gneis- und Granitfelsen, auf denen Flechten wucherten, graublau und feucht. Die Rinde der Bäume war noch ganz schwarz von der Nässe des Nebels. Gras bedeckte den Boden, und auf dem Gras weideten die Schafe.
    Ein winziges Eiland, aber es lag dennoch ideal: weitab von größeren Städten, es gab nicht einmal ein Dorf in der Nähe, hier, so weit oben im Norden. Den Einheimischen galt es seit Jahrhunderten als verwunschen. Es sollte dort spuken, der einbeinige Seemann ging um und der große schwarze Hund mit den Augen, die glühten, als wären sie aus feurigen Kohlestücken. Einer wollte sogar den Todesengel gesehen haben, wie er in einer stürmischen Nacht seine Schwingen über die Insel breitete, aber das war ein Säufer gewesen.
    Selten verirrte sich ein Fischer auf das Eiland, um eine Robbe zu schlagen oder Schutz vor einem plötzlichen Sturm zu suchen. Zwei Wochen zuvor war ein Hütehund, der Collie des alten Patrick Grant, zur Insel geschwommen und nicht wieder zurückgekehrt. Dann reisten zwei Leute an, Uniformierte, aus London, wie man hörte, und die Regierung hatte Grant entschädigt; die beiden redeten lange mit ihm, worüber, dazu schwieg er. Und dann waren die Warntafeln aufgestellt worden. Nun standen Schilder in regelmäßigen Abständen am Ufer, die das Betreten verboten. Ein Wachposten ging den immer gleichen Kreis entlang der Küste, um aufzupassen.
    Gruinard Island lag inmitten der sanften gleichnamigen Bucht, ein schwarzer, mit grünen Tupfern bedeckter Fleck in der See. Am Festlandufer saßen ebenfalls Wachposten, die Maschinengewehre im Arm, und entlang der Küste wusste man, dass man sich besser nicht näherte oder nachfragte, was auf der Insel geschah. Es war wichtig, und das musste reichen. Wichtig war vieles jetzt im Krieg, und auch in Schottland fürchtete man deutsche Angriffe oder eine Invasion der Hunnen, und wenn der kleine Fleck Erde dazu beitrug, den wahnsinnigen Diktator von Schottland fernzuhalten, dann war das besser so.
    Die Männer nahmen das Donnern der Brandung und das Rauschen der Wogen längst nicht mehr wahr, wie das Möwengekreische stellte es die gewohnte Kulisse dar. Aber ihre feinen Ohren bemerkten sofort, wenn ein Schaf nicht mehr blökte. Darauf achteten sie. In ihren schweren Schutzanzügen bewegten sie sich langsam und gebeugt wie vorsintflutliche Ungeheuer über das von der Sonne ausgedorrte Gras der Insel, das noch feucht vom Morgennebel war. Sie gingen vorbei an den Holzpflöcken, an denen die Reste der zerborstenen Metallhülsen baumelten. Mit einer großen Zange griff einer von ihnen nach einem Schafskadaver, hob ihn an und legte ihnvorsichtig zu den anderen auf den kleinen Holzkarren, den sein Hintermann zog. Ein dritter nahm ein Notizheft und trug fein säuberlich die Nummer des Schafs und den mutmaßlichen Todeszeitpunkt ein. Man konnte nicht immer anwesend sein, wenn es passierte, selbst wenn man wusste, dass es passierte. Manche tote Schafe fand man zufällig, weil sie sich zum Sterben hinter einen Felsen zurückgezogen hatten oder weil man nicht erkannt hatte, dass es bald soweit sein könnte. Es gab über achtzig Schafe.
    Aber die sorgsamen Notizen waren wichtig. Jedes Schaf musste eingetragen werden, denn nicht alle erhielten dieselbe Dosis.
    Es stank grässlich nach verbranntem Fleisch. Die drei Männer näherten sich schweigend dem Scheiterhaufen, der seit mehreren Tagen in einer Mulde neben der höchsten Erhebung der Insel brannte wie ein Signalfeuer für Seeleute, die den Kurs verloren haben. Sie kippten mit gemeinsamen Kräften den Karren um; ein eingeübter, oft erledigter Arbeitsgang. Die Ladung aus Tierkadavern ergoss sich in die Flammen. Eine Möwe ließ sich auf einem der toten Schafe nieder und begann, in eine frische, offene
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