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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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den Clip, der die Platzstelle sichert, und ihr wird warm, sehr warm, als sie den kühlen Text findet:
die kalte seide deiner lust
wie sie übern beton schlurrt
(die einfachen dinge im schlepptau:
liebe und schnee)
ist blau wie der fisch
der aus meinem mund schlüpft
Das hat aber nun gar nichts mit Stadt und Hauswand zu tun, das ist eher ein – Liebesgedicht?
Irgendwie hat sie gar nicht gemerkt, dass jemand ins Zimmer getreten ist. Die Stationsärztin sieht ihr neugierig über die Schulter .
Na, das geht doch ganz gut, Frau Wesendahl, nicht? Was schreiben wir denn?
Sie antwortet nicht.
Sie findet es unverfroren, so beobachtet zu werden.

Matthes bringt die Stoffturnschuhe, sie müssen den rechten in der Tat aufschneiden. Er holt Gummiband aus der Tasche und näht es ein, damit er ihr nicht von den Knöcheln rutscht. Seine Umsicht macht sie wieder einmal sprachlos. Wenn er sie im Rollstuhl an den See schiebt oder die Klinik umrundet, sagt er fast nichts, er spürt wohl, dass auch Helene nichts sagen möchte, wenn er hinter ihr läuft, sie hat kein Zutrauen zu ihrer Artikulation, wenn ihr Gegenüber ihr nicht auf den Mund schauen kann. Aber ohnehin fällt es schwer, mit Matthes ein Wort zu wechseln, wo es doch darauf ankäme, sie wechselten erst einmal die Spur, in der sie unterwegs sind. Helene macht vorsichtig Anstalten, die Krankenrolle verlassen zu wollen. Matthes aber ist nach wie vor umsichtig, fürsorglich, rührend. Ist er väterlich? Ja, und das ist es gleichzeitig, was sie – stört. Mit einem Vater kann sie nicht auf Augenhöhe kommunizieren, ein Vater weiß besser als sie, was für sie gut ist, ein Vater ist Trauermantel, denkt sie.
Zuweilen überkommen sie wieder Worte wie früher, denkt sie.
Zuweilen weiß sie gar nicht, was diese Worte meinen, denkt sie.
Aber sie denkt!
Vater ist Keinvater , denkt sie. Als sie überlegt, was das zu bedeuten hat, fällt ihr ein, wie Matthes über sie, die Invalidin! , die Schadhafte! , hergefallen war bei ihrem ersten Besuch in der Arberstraße, wie er sie geliebt hatte mit aller ihm zu Gebote stehenden Rücksichtslosigkeit, wie er sich ihrer versichert, sie bloßgelegt und zurückgefordert hatte, und auf einmal sieht sie ganz anders, was damals geschehen war. Nicht die Attacke, den Angriff …
Die Eiszeit hatte eingesetzt nach jenem Sentimentalitten -Tag im Juni. Helenes Liste hing als unübersehbarer Kluftmarker in der Küche, über dem Telefon. Sie hatte notiert, was sie mitzunehmen gedachte beim Auszug, und Matthes hatte stets so getan, als nähme er diese Liste gar nicht wahr. Gesprochen hatten sie darüber nicht, wie sie überhaupt Worte vermieden, die sie in Zugzwang hätten bringen können. Helene hatte gar nicht vor auszuziehen, aber Matthes an den Rand seiner Überlegenheit zu bringen, das wollte sie schon. Dass er sich einließ auf sie. Dass er zurückkam. Nicht einfach zu ihr, denn da war er ja, irgendwie, sondern auf frühere Arten der Gegenseitigkeit, die nicht ausgehöhlt waren durch Ritual und Benutzung. Den Gedanken an eine Trennung hatte sie nicht wirklich denken wollen, ihn aber stetig provoziert mit der Art ihres Rückzugs. Dazu hatte sie hoch gepokert. Der Maljutkaschreck saß ihr eigentlich tief genug in den Knochen, aber sie hatte ihn immer weiter in sich hineingedrückt, um fest auf dem Boden zu bleiben, während ihr Verstand sich hoch in die Luft erhob und manchmal einfach auf und davon ging. Wenn sie für sich und die Kinder einkaufte und kochte, für Matthes aber keinen Teller auf den Tisch stellte. Wenn sie seine Wäsche aussortierte, ehe sie die Maschine füllte. Wenn sie dabei aber immer Not fühlte, nicht Wut oder Groll, sich ihm anders nicht verständlich machen zu können. Matthes aber hatte nie etwas bemerkt dazu, hatte sich einen Teller aus dem Schrank genommen und schließlich begonnen, für sich selbst einzukaufen, dabei bedienten sie sich doch des Geldes von einem gemeinsamen Konto! Er hatte seine Wäsche gewaschen, aber Sachen der Kinder hinzugefügt, wenn noch Platz gewesen war in der Trommel, und er war dazu übergegangen, mit Lottchen am Nachmittag, wenn er von der Arbeit gekommen war, noch um die Häuser zu ziehen, Fußball zu spielen oder Bogen zu schießen, so, als wolle er die ihm noch verbleibende Zeit so gut wie möglich nutzen oder aber, hatte Helene zuweilen gedacht, sich der Kleinen so ins Herz schreiben, dass sie bei ihm bleiben wollte nach der Trennung. Die sie aber ja gar nicht erstrebte! Die sie vor sich herschleppte
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