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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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sie mit festgeknotetem Gummi, den anderen hat sie den Gürtel verordnet, den sie auf einem Basar der Ergotherapie erstand. (Ein schmales Mädchen wird sie zwar niemals werden, aber nicht dick zu sein ist ein früher Traum, den sie immer beiseiteschob angesichts der Wirklichkeiten, in denen sie sich tummelte.)
Also los.
Also ran.
An den Speck, an die Trauer, die Trübsal, an Stockung und Schwäche. So wird ein Schuh draus, den sie vielleicht nicht einmal mehr aufschneiden muss.

C:Magd 02 /hirnrausch.doc
Der Hirnrausch-Giftfahnder des Herrn
Im Winter 1835 / 36 arbeitete Georg Büchner in Straßburg an seiner medizinischen Dissertation über die Schädelnerven einer Karpfenart. Ungefähr zur gleichen Zeit, eigentlich muss man sagen, kurz vor seinem Tode, schrieb er eine an beiden Ende offene Erzählung, die wie ein freigelegter Nervenstrang anmutet: genau seziert und das, was sichtbar ist, beschreibend. Mit naturwissenschaftlichem Blick beugt er sich über eine dreiwöchige Episode im Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, des Sturm-und-Drang-Dichters, der ein gutes halbes Jahrhundert zuvor in ebenjenes Straßburg kam. Nicht freiwillig, aber unfreiwillig wäre auch nicht richtig: Von einem selbstlosen Pfarrer namens Oberlin wurde er hierher verbracht, der mit ihm bei sich zu Hause, in den Nordvogesen, nichts mehr anzufangen wusste, denn Lenz litt an einer Psychose. Büchner nimmt dokumentarisch genau auf, was überliefert wurde von jenen drei Wochen zwischen dem 20 . Januar und dem 8 . Februar 1778 , in denen Lenz bei Oberlin im Steintale weilte. Nicht fiktional, ist die Geschichte dennoch eine der modernsten Erzählungen der deutschen Literatur. Ein Dauerbrenner. Eine Lötlampe, unter deren Schein schmilzt und sich zusammenfügt, was zuvor sperrig und unfassbar dalag: eines Mannes Erkrankung an der Unfähigkeit, der ihn umgebenden Realität ins Auge zu sehen, weil er drinnen steckt, im Aug-Apfel, ohne es zu wissen, und herausschaut. Ein Verrückt-Werden, weil er deutlich spürt, dass seines Lebens Zweck im Aug-Apfel der Realität ganz ohne einen Gott auskommt und er doch mit Gottesaugen nach seinem Lebenszweck zu suchen gezwungen scheint. Ein Hirnrausch-Giftfahnder, der den Idealismus der Kunst für »die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur« und damit für ein verklärendes Narkotikum hält, es aber im Leben nicht schafft, sich der Realität zu vergewissern, es sei denn, durch selbst zugefügten, physischen Schmerz. Oberlins christlich-religiöses Weltmodell bietet ihm keinen Zugang mehr, aber er hat ihm keine rationalistisch-realistische Alternative entgegenzusetzen, sodass die Welt zum Hieroglyphen wird …
In der Eingangsszene wandert Lenz auf Waldbach im Steintale zu. »Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte«, heißt es da. Mit dem Kopf nach unten liegt das Ungeborene in seiner Mutter. Lenz scheint sich zu sehnen nach diesem Zustand des Ungeborenseins, und wir, die Nachgeborenen, sollten ihn als zu früh Geborenen respektieren lernen. Vorhang auf.

Vollkommen verrückt will ihr das vorkommen. Wie konnte sie das nur schaffen?! Zwei Jahrhunderte unterwandern, von einer neurologischen Klinik aus! Höchstens nach den Geburten der Kinder hat sie sich so wohlgefühlt in der Erschöpfung. Eine gute Vorrede, findet sie, für eine Lenzlesung. Fiebrig hat sie ihn auf die Diskette mit dem Angorakaninchenauge kopiert. Entkräftet fühlt sie sich, aber ihre Kraft hat sich dem Prolog überantwortet, sie kann sie fühlen, während sie ihn wieder und wieder liest. Dazwischen schließt sie die Augen, versucht zu rekapitulieren, wie es ihr früher immer gelungen war bei eben durchgearbeiteten Texten, aber das ist zu viel verlangt, das geht nicht. Beinahe möchte sie wütend werden darüber, aber die Freude vermag den Groll schließlich abzuwürgen.
Matthes soll das ausdrucken und Pietro schicken. Heute war er da, zum zweiten Mal in den letzten beiden Wochen. Für übermorgen hat sie ihre Entlassung in die Wege geleitet. Matthes wusste es schon, war von der Klinik sofort informiert worden. Helene läuft, seit gestern steht der Rollator wieder in ihrem Zimmer, der Fuß im Gestell ist abgeschwollen. Ist anfällig, das schon, aber es wird gehen, sagt sie sich, zumal sie die Stütze auch weiterhin ums Bein geschnallt tragen wird. Jetzt aber, nach letzter Wäsche und dem
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