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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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Psychiatrie-Lehrbuch aus alten Zeiten und eine Büchnerbiografie. Am liebsten schickte sie ihn sofort wieder weg. Am liebsten zöge sie ihn dicht zu sich heran. Und wirklich: Er pendelt einen Moment lang zwischen ihr und der Tür, sie kann es deutlich sehen. Unsicher ist sie wegen des Textchens von neulich, sie spürt keinen Maßstab, wahrscheinlich war es nichts als Gestammel, vielleicht aber auch zu verstehen. Hatte sie es nicht einen Moment lang selbst für ein Liebesgedicht gehalten? Fragen möchte sie ihn nicht danach.
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Es ist wahr: Er kennt sie. Die Lähmung der rechten Gesichtshälfte kann ihre Mimik nicht aushebeln, die er zu lesen vermag. Sie sagt nichts. Sie zittert.
Da schnappt er plötzlich nach Luft, schnappt er?, seine Augen laufen aus. Aber warum laufen denn seine Augen aus? Was ist denn das? Bis ihr klar wird, dass er weint, hat er sie längst gegriffen und drückt sie so sehr, dass sie meint, die Augen fielen ihr heraus. Nur einmal hat sie ihn weinen gehört, es klang auch wie ein Schnappen nach Luft und war noch durch eine Betonwand in ihrer letzten Wohnung vor der Arberstraße zu hören gewesen. (Die Katze hatte Bengts Wellensittich gefressen, was eine Tränenkatastrophe ausgelöst hatte.) Gut , sagt er nur, gut , dann verkriecht sich sein Kopf unter ihrem Hemd, und er weint sich leer.
Da kann sie nun auch nichts mehr tun.
Da wartet sie ab, bis er leer ist.
Ach, sie zwei beide, sie sind schon ein Pärchen wie Max und Klärchen …
Das sagt sie aber nicht.
Nachher geht er mit ihr zur Physiotherapie. Die Therapeutin hat darum gebeten, einen Angehörigen mitzubringen, sie will ihm Tricks und Kniffe zeigen.

Sie versenkt sich, versinkt. Nachts kann sie am besten arbeiten, sie hat dann Ruhe genug. Unterbricht, um zu schlafen, wacht aber wieder auf. Ein Vabanquespiel mit ungewissem Ausgang. Dass es ihr womöglich nie wieder gelingen könnte, einen literarischen Text zu verfassen, will sie nicht denken, aber es droht. Das spürt sie. Will es wissen. Was sie schon weiß: Es fällt schwer zu lesen, zu verstehen. Für jeden Satz der Büchnerbiografie braucht sie, wie sie findet, unendlich viel Zeit. Wenn sie am Verzweifeln ist, macht sie erst einmal Schluss, nicht ohne sich zuzureden. ( Das war doch gar nicht so schlecht. Das war doch ein Anfang. Das war doch etwas, woran du vor zwei Monaten noch nicht einmal dachtest. Das war doch aber ganz gut! ) Mit dem Lenz wird ihr leichter: Den kennt sie, erinnert sich, die Sätze werden schneller wieder vertraut, auch wenn es sehr lange her ist, dass sie ihn gelesen hat. Zwanzig Jahre? Fünfundzwanzig? Sie legt Dateien an, macht sich Notizen, sie fährt zum Essen, sieht aber nicht mehr, was sie auf dem Teller hat, sie absolviert ihre Therapien und hat den Beutel immer dabei mit dem Lenz, mit dem Büchner, sie liest unentwegt, sie ist ein Phänomen , sagt der Pfleger (aber das hört sie nicht), sie brüht Tee, sie trinkt, sie liest, bis sie schläft. Sie schläft viel, nach wie vor. Sie wacht auf, wirft sich kaltes Wasser ins Gesicht, trocknet es, fährt ans Fenster (tags) oder unter die Stehlampe (nachts), sie schreibt, sie liest, sie notiert. Das Schreiben mit links geht nicht schnell, auch am Laptop nicht, was sie freut, denn sie denkt ja auch langsam. Denkt sie. Denkt sie an die Entlassung? Weniger, aber zuweilen schon. Überlegt, wann sie es anbringt bei der Stationsleitung. Schiebt es, Tag für Tag. Sie will sicher sein, dass sie laufen kann. Als Matthes wieder kommt, fragt sie ihn schon an der Tür nach Büchners Dissertation, er schrieb über die Schädelnerven einer Karpfenart, hast du davon gehört?, was weißt du?, und findet es letztlich tröstlich, dass Matthes nichts weiß, nein, darüber nicht, hatte sie denn gedacht, jeder weiß alles? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich hat sie kein Maß, weiß nicht, was man weiß und was nicht, muss nicht wissen lernen, das Frohsein damit und das Wissen, wo’s steht, die ganze alte Leier. Was rauskommt, weiß sie noch immer nicht, aber schreibt, schreibt an gegen Wut, Wortbann und Wortbruch, sie hat es Pietro versprochen. (In Wirklichkeit hatte sie nichts versprochen, nur zugesagt, es zu versuchen, das weiß sie.) Ihr Haar scheint schneller zu wachsen, wenn sie viel denkt, denkt sie. Es sprießt nun schon zwei bis drei Zentimeter grau aus der Kopfhaut, und schmaler wird sie mit jedem Tag, die Kopfarbeit braucht also auch Energie. Das freut sie, die Jogginghosen trägt
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