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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit
Autoren: Jorge Molist
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1
    Llafranc, Sommerende 1484
    J oan lag im Gras des Berghangs und genoss den strahlenden Morgen. Noch ahnte er nicht, dass dies der letzte Tag seiner Kindheit sein würde.
    »Schau mal dort«, sagte sein Vater und zeigte aufs Meer hinaus.
    Der Junge richtete sich auf und blickte den weißen Vögeln nach, die sich kreischend über den Felsen erhoben. Sie hatten die Flügel weit ausgebreitet und standen beinahe still in der Luft.
    »Die Möwen?«
    »Nein. Sieh genau hin.«
    Joan wusste nicht, was sein Vater meinte. Er betrachtete Ramóns Gesichtsausdruck, seine gerade und kräftige Nase, die buschigen Brauen, den Bart und die braunen Haare. Die katzenhaften Augen hatten die Farbe von hellem Honig und schweiften in der Ferne umher. Er erinnerte Joan an einen Löwen. Ramón war der klügste und stärkste Mann im Dorf. Joan wollte unbedingt erraten, was sein Vater meinte, und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Landschaft.
    Die Wellen schlugen an den Fuß der Felsküste, und die Pinien, die den beiden Schatten boten, verströmten einen eindringlichen Duft nach Harz. Joan betrachtete den Horizont, die Wölkchen über dem Meer und den Wellenschaum, den die Brise hochspritzen ließ. Er entdeckte nichts Ungewöhnliches und wandte sich schließlich mit fragendem Blick seinem Vater zu.
    »Sieh dir die Wolken an«, sagte dieser.
    Der Junge betrachtete die Massen, die wie ungesponnene Wolle aussahen und deren Weiß die Augen blendete, obwohl sie ein paar graue Töne verbargen.
    »Gib genau acht, Joan«, drängte Ramón.
    Er starrte die rundlichen Körper an, die sich langsam und träge am Himmel veränderten, ohne dass er wusste, was sein Vater meinte.
    »Siehst du sie nicht?«
    »Wen?«
    »Die Himmelswesen.«
    Joan wollte nicht weiterfragen und schwieg.
    »Siehst du nicht das Pferd dort, das die Beine hebt und zum Sprung ansetzt?« Der Vater zeigte mit dem Finger darauf.
    Der Junge betrachtete die Lichtgestalten und suchte nach dem Tier. Auf einmal entdeckte er die Mähne, die Ohren, das Gesicht und das halbgeöffnete Maul eines phantastischen Wolkenwesens, das die Beine hob. Es bewegte sich langsam, mit angespannten Muskeln.
    »Ich sehe es!«, rief Joan aufgeregt, während er darauf zeigte. »Das stimmt, es ist ein Pferd!«
    »Und daneben den großen Fisch? Siehst du den auch?«, erkundigte sich Ramón.
    »Tatsächlich, den sehe ich!«, bestätigte er. Der Junge schwieg ein paar Augenblicke lang und bewunderte diese unglaubliche Szenerie. Dann rief er: »Und weiter weg einen Riesen – und dort einen Hund!«
    Die Wolken wanderten gemächlich, aber unermüdlich, während sich ihre Umrisse wandelten und neue Formen annahmen.
    Ramón Serra sah seinen Sohn lächelnd an. Er war ein lebhafter, zwölfjähriger Junge, der die gerade Nase, das kräftige Kinn und das braune Haar von ihm geerbt hatte. Von seiner Mutter hatte er die großen dunklen Augen mit dem forschenden Blick. Mit Begeisterung war sein Sohn dabei, die Welt zu entdecken, und er genoss es, sie ihm zu zeigen. Der Mann streichelte ihm liebevoll und zufrieden über den Kopf.
    Während Joan weiter mit dem Finger auf die Wolken deutete und immer neue Formen und Figuren entdeckte, durchsuchten seine Augen die Umgebung. Unten, am Fuß des Berges, winzig in der Entfernung, lag sein Dorf mit kaum mehr als einem Dutzend weißer Häuser, die noch schliefen und sich zusammendrängten, als wollten sie sich gegenseitig schützen. Es war Sonntag. Vor ihnen breitete sich der Strand aus. Danach kam die weite Bucht von Llafranc, wo sich das Blau des durchsichtigen Wassers mit dem Goldgelb des Sandes, dem Weiß des Schaums, dem Grau der Felsen und dem Grün der Pinien verband. Die vier Boote des Dörfchens waren auf den Strand gezogen worden. Sie alle hatten zwei Ruder, außer seinem eigenen, der
Möwe
, die acht hatte. Auf einem Bugbrett des Bootes war ein Bild eingeschnitzt, das darstellte, wie ein Mann seine Harpune hob, um einen Wal zu erlegen. Es war ein Werk des kleinen Joan, der alle damit überrascht hatte, wie geschickt er schnitzen konnte. Ramón war voller Stolz auf seinen Sohn und auf das Boot.
    Plötzlich entdeckte er in der unermesslichen Weite des Meeres ein Schiff, das sich von Süden her näherte. Stirnrunzelnd stand er auf und beschattete seine Augen mit der linken Hand, um deutlicher erkennen zu können, worum es sich handelte.
    »Eine Galeere!«, rief er, und der Ton in seiner Stimme alarmierte das Kind. »Laufen wir schnell ins Dorf, Joan. Wir müssen sie
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