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Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Titel: Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Autoren: Jürgen Todenhöfer
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ringend erzählt er von den vielen toten Kindern, die er im beißenden Qualm der Trümmer gesehen hat. Von den zwei toten Mädchen, die er, zusammen mit Freunden, eingeklemmt und verbrannt in heruntergefallenen Elektrizitätsleitungen gefunden hat. Dann höre ich meinen Großvater zum ersten Mal schluchzen.
    Ich sitze ganz still in der Küche, als mein Großvater im Wohnzimmer nebenan vom Untergang Hanaus berichtet. Dann gehe ich in die Stube und frage ihn – wie meine Mutter später erzählt – mit dem großen Ernst eines kleinen Kindes: »Darf man im Krieg auch Kinder töten?« Mein Großvater antwortet nicht. Auf meine ewigen Kinderfragen habe ich nie eine Antwort erhalten. Bis heute nicht.
    Später erfahre ich, dass in jener Nacht angeblich 279 britische Bomber über 350000 Brandbomben und über 440 Sprengbomben abgeworfen hatten. 2 Doch das ist Statistik. Was ich nie vergessen werde, ist das Beben der Erde, die brennenden Menschen, die blutrot leuchtende, sterbende Stadt meiner Eltern. Das also ist Krieg. Wir Deutschen haben ihn angefangen. Aber darf man deshalb Städte verbrennen und Kinder töten?
    Der Teufel bediente sich in jener Kriegsnacht nicht nur der Deutschen. Vielleicht ahnte ich damals zum ersten Mal, dass es keine anständigen Kriege gibt.
    Abrechnung in Algier
    Meine nächste Begegnung mit dem Krieg, dem ich nach Hanau nie mehr begegnen wollte, begann in Paris. 1959 und 1960 studierte ich in der französischen Hauptstadt. Ich wohnte im Studentenviertel Saint-Germain. Dort erlebte ich große Demonstrationen für und gegen den französischen Kolonialismus in Algerien. Von Woche zu Woche wurden die Auseinandersetzungen heftiger. Ich erinnere mich, wie einmal an der Kreuzung Boulevard Saint-Germain und Boulevard Saint-Michel zwei riesige Demonstrationszüge aufeinanderprallten. Sie hatten die Polizeiblockade durchbrochen, die derartige Zusammenstöße verhindern sollte. Es kam zu einer wüsten Schlägerei.
    Wie so oft bei derartigen Zusammenstößen schlugen die Demonstranten ihren Gegnern als Erstes die Brille vom Gesicht. Da dies beide Seiten taten, krochen bald Dutzende von studentischen Protestlern auf der Erde herum, um ihr wichtigstes Studiergerät wiederzufinden. Wer es nicht fand, wusste, dass er während der nächsten Wochen den Besuch der Universitätsbibliothek vergessen konnte. Umso heftiger prügelte man auf die andere Seite ein und schlug möglichst viele gegnerische Brillen herunter.
    Meist kam nach kurzer Zeit die französische Polizei dazu und drosch ebenfalls auf die Kontrahenten ein. Besonders gefürchtet waren die Compagnies Républicaines de Sécurité ( CRS ), eine berüchtigte Spezialeinheit der Nationalpolizei. Sie setzten ihre großen hölzernen Schlagstöcke gnadenlos ein. Besonders schlimm waren jene Demonstranten dran, die durch die Metro-Stationen zu entkommen versuchten. Durch die engen Eingangstüren und -kontrollen entstand fast immer ein Stau, in den die CRS -Polizisten hemmungslos hineinschlugen.
    Oft gab es nicht nur Verletzte, sondern auch Tote. Unter den Toten waren vor allem Algerier. Manchmal starben sie auch erst beim späteren Verhör durch die Polizei. Diese Verhörmethoden wurden den staatlichen Sicherheitskräften auch öffentlich vorgeworfen. Später entledigten sie sich dieses Problems, indem sie einen Teil der Toten einfach in die Seine warfen. Mindestens 200 Algerier wurden auf diese Weise »entsorgt«. Jahrzehntelang wurden diese Morde energisch geleugnet. Heute sind sie unstrittig. 3
    Wissensdurstig und neugierig, wie ich war, beschloss ich, im Sommer 1960 nach Algerien zu fahren, um mir vor Ort ein Bild von der Lage zu verschaffen. In der billigsten Unterdeck-Klasse eines alten französischen Dampfers fuhr ich für 50 französische Francs nach Algier. Die Nacht war elend. Wegen des starken Seegangs erbrachen sich fast alle Mitreisenden. Ich auch. Doch am nächsten Morgen stand ich stolz am Kai von Algier. »Alger la blanche«, die berühmte »weiße« Hauptstadt der umkämpften französischen Kolonie, lag vor mir.
    Von Krieg war weit und breit nichts zu spüren. Mein Vater hatte mir erzählt, Krieg sehe immer nur dort wie Krieg aus, wo die Front verlaufe. Wo militärische Operationen stattfänden oder wo Bomben einschlügen. In 90 Prozent der Kriegsgebiete sei das Auffallendste, dass alles normal zu sein scheine. »Kann Krieg normal sein?«, hatte ich mich häufig gefragt.
    In einem kleinen Café in der Nähe des Hafens leistete ich mir eine Tasse
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