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Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Titel: Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Autoren: Jürgen Todenhöfer
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Wind wird stärker.
    Ich sehe, dass Yussuf an seinem alten Handy herumspielt. Ich nehme es ihm aus der Hand und entferne SIM -Karte und Batterie. Allzu leicht sollten wir es den Schützen nicht machen, uns zu orten. Ich will nicht im Wüstensand sterben.
    Noch vor wenigen Monaten hatte ich in meinem Buch Teile dein Glück beschrieben, wie sehr ich die Schmetterlinge von Salvador da Bahia bewunderte. Nach einem in der Gluthitze Brasiliens durchtanzten Sommer setzen sie sich im Frühherbst abends an den Strand. Dort warten sie, bis eine Welle sie auf das türkisblaue Meer hinausträgt. Ich hatte unvorsichtigerweise geschrieben, dass sich der Tod trotz vieler gefährlicher Situationen nie für mich interessiert habe. So etwas sollte man nicht schreiben. Man darf das Schicksal nicht herausfordern.
    Unsere Lage ist nicht nur bedrohlich, sie ist auch absurd. In München besitzt einer der Söhne Gaddafis, Saif Al-Arab, 70 Meter von meiner Wohnung entfernt ein großes Haus. Jeden Tag bin ich an dem schneeweißen Bungalow vorbeigegangen und habe gedacht, wie klein doch die Welt ist. Jetzt werde ich, statt ihm in meiner Straße zu begegnen, im libyschen Wüstensand von den Truppen seines Vaters mit Granaten eingedeckt.
    Über all das würde ich gern mit Abdul Latif diskutieren, einem der wenigen Menschen, mit dem ich über alles sprechen konnte. Doch es gibt ihn nicht mehr. Ich hatte es mir zur Lebensaufgabe gemacht, diskriminierten Muslimen eine Stimme zu geben. Jetzt war ich mitschuld am Tod eines der großartigsten Muslime, die mir begegnet sind.
    Yussuf will nicht mehr liegen bleiben. Abwechselnd deutet er zum Himmel und auf die dunkle Sonnenbrille, die er sich demonstrativ aufgesetzt hat. »Bang, bang«, flüstert er. Er will uns klarmachen, dass es in wenigen Stunden dunkel werde und die libysche Luftwache dann die Wüste mit Nachtsichtgeräten absuchen werde. Er will weg, solange es noch hell ist. Ein Wahnsinn!
    Ich versuche ihm zu erklären, dass er bei Tageslicht noch leichter zu entdecken sei. Vor allem, wenn er jetzt losrenne. Dann wüssten die Schützen endlich genau, wo wir sind. Bisher hätten sie davon offenbar nur eine vage Vorstellung. Aber Yussuf hat panische Angst vor Nachtsichtgeräten. Er hält sie für diabolische Wundermaschinen. Julia ist von dem Gedanken, hier wegzukommen, ebenfalls beeindruckt. Ich habe Schwierigkeiten, den beiden beizubringen, dass man mit Nachtsichtgeräten nicht besser sehen kann als mit Tagessichtgeräten. Julia kann ich gerade noch überzeugen, Yussuf nicht. Er ist auf dem Sprung. Immer wieder deutet er auf seine Brille und auf den Himmel. Erst als ich ihn heftig anfahre, hört er auf, auf Julia einzureden.
    Doch den Gedanken an Flucht hat er noch lange nicht aufgegeben. Auch Julia schwankt. Ich überlege, ob ich die beiden notfalls mit Gewalt daran hindern muss, in den sicheren Tod zu laufen. Aber wie? Genau in diesem Augenblick schlägt mit donnerndem Krachen wenige Meter vor unserem Sandhügel eine Rakete ein. Der ohrenbetäubende Einschlag ist so nah, dass sich die Düne zu heben scheint und die Erde sekundenlang schwankt. Wir versuchen, uns am Boden festzukrallen. Sand rieselt auf uns herunter. Die Pranke des Tigers hätte uns um ein Haar getroffen. Zwei Meter weiter, und alles wäre vorbei gewesen. Plötzlich denkt niemand mehr an Flucht. Mein Mund ist voller Sand.
    Unsere einzige Überlebenschance scheint zu sein, uns ganz dicht an die Düne zu pressen. Sie als Schutzschild zu benutzen. Selbst wenn noch tausend Schwarzkäfer und Wüstenspinnen auf uns herunterpurzeln. Der Tod ist jetzt ganz nah. Vielleicht denke ich gerade meine letzten Gedanken.

I.
Am Ende bleiben nur Tränen

Frühe Begegnungen mit dem Krieg
    Die Zerstörung Hanaus
    Wie die Erde beben und schwanken kann, hatte ich schon in meiner Kindheit erlebt. Am 19. März 1945 in Hanau. Ich war gerade mal vier Jahre alt. Doch die Bilder und Gefühle von damals haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Ich bin ein Kriegskind.
    Eigentlich war der Krieg damals längst entschieden. Von meinen Großeltern und meiner Mutter wusste ich, dass die Amerikaner schon in wenigen Tagen in Hanau einmarschieren würden. Dann wäre der schreckliche Irrsinn, wie meineMutter den Krieg nannte, endlich vorbei. In der Tat ratterten die amerikanischen Panzer schon anderthalb Wochen später in Hanau ein.
    Seit Wochen hatte es fast jeden Tag Fliegeralarm gegeben. Wir Kinder waren dann stets sofort in den Keller gescheucht worden.
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